Projekt Beschreibung

Im Laufe des Lebens schwindet die Sehkraft unausweichlich und bei jedem. Durch das zunehmende Lebensalter oder Volkskrankheiten wie Diabetes steigt überdies das Risiko für schweren Sehverlust oder Erblindung. Österreichische Mediziner treten dem mit hochauflösenden Netzhaut-Scans und Künstlicher Intelligenz entgegen.
Einen Kirschenstrudel kann Frau Agnes schon lange nicht mehr machen. Der Teig würde unbemerkt reißen, die Kirschen herauspurzeln, jemand würde draufsteigen und wieder Flecken am Teppich hinterlassen. Den Ofen zu bedienen und die richtige Temperatur einzustellen, ist für die Pensionistin ein Ding der Unmöglichkeit. Frau Agnes hat ihre Sehkraft schleichend und infolge der sukzessive fortschreitenden altersbedingten Makuladegeneration (AMD) verloren, einer ab dem 50. Lebensjahr einsetzenden pathologischen Veränderung der Netzhaut.
Als Lichtsensor des Auges erfüllt die Netzhaut (Retina) unverzichtbare Dienste. Sie ist aufgrund ihrer komplexen Struktur aber auch sehr anfällig für Erkrankung und Verschleiß. Gerade der Bereich mit der höchsten Dichte an Sehzellen, die Makula, ist davon betroffen. Selbst minimale Veränderungen in diesem Areal führen zu einem schweren Verlust von Sehkraft. 20 Millionen Menschen sind davon alleine in Europa betroffen, weltweit sind es rund 190 Millionen Menschen. In Industrienationen ist die Makuladegeneration damit die häufigste Ursache für Erblindung. Bei der trockenen Makuladegeneration führen Ablagerungen zum Verlust von Sinneszellen der Netzhaut. Bei der feuchten AMD wachsen hingegen Blutgefäße in die Netzhaut ein, wodurch die Sinneszellenschicht der Netzhaut vernarbt und schließlich zerstört wird.
Sehkraft nimmt bei allen ab
Szenenwechsel ins rote Bettenhaus des AKH Wien. Hier befindet sich auf Ebene acht die Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie der Medizinischen Universität – und das Büro ihrer Leiterin, Ursula Schmidt-Erfurth. Wenn die Expertin der Augenheilkunde über ihr Fachgebiet spricht, weiß man den Blick aus den Panoramafenstern über Wien plötzlich ganz anders zu schätzen. „Mit zunehmendem Lebensalter geht die Netzhautfunktion und damit das Sehvermögen in jedem Fall und bei jedem Individuum verloren“, so Schmidt-Erfurth, die auch das Christian- Doppler-Labor OPTIMA leitet. Dieses interdisziplinär besetzte Forschungsinstitut widmet sich der Bildanalyse hochauflösender Netzhaut-Scans – mit dem Ziel, Behandlungsstandards festzulegen oder Schäden der Retina möglichst bald zu erkennen. Denn: „Wenn schon ein Schaden an der Netzhaut besteht, ist es zu spät, da kann man die Sehkraft nicht wieder zurückholen“, erklärt Schmidt-Erfurth.
Schäden der Netzhaut oder deren Vorboten so früh wie möglich festzustellen, gelingt mit Methoden wie der optischen Kohärenztomografie (OCT). Dieses vor rund sechs Jahren von der MedUni Wien und OPTIMA entwickelte berührungslose bildgebende Verfahren liefert hochauflösende, dreidimensionale Bilder der Netzhaut, auf denen selbst kleinste Veränderungen bis auf zelluläre Ebene dargestellt werden können.
Die neue Generation der Geräte (SD-OCT) arbeitet noch exakter als ihre Vorgänger und gleicht dabei selbst minimale Augenbewegungen automatisch aus, was die Bildqualität weiter steigert. Dazu nimmt das Gerät innerhalb von 1,2 Sekunden 60 Millionen Pixel pro Bild auf und erzeugt pro Untersuchung etwa 100.000 Scans.
Das kleine Universum überblicken
Eine derart exakte Darstellung der Retina geht auch mit neuen Herausforderungen einher, schildert Schmidt-Erfurth: „Das ist ein Mikrouniversum, da geht es nicht um klinische Veränderungen, die der Augenarzt mit der Lupe erkennen kann. Das sind subklinische oder mit normalen Mitteln nicht sichtbare Veränderungen.“ Um die immensen Datenmengen für die richtige Diagnosestellung und die Auswahl der optimalen Therapie nutzen zu können, brauche es Methoden der Künstlichen Intelligenz, konkret: Deep-learning-Methoden, bei denen ein Algorithmus alle veränderten Bildpunkte findet, Muster erkennt und daraus den Schweregrad einer Erkrankung ableitet. Der in enger Kooperation mit dem Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der MedUni Wien entwickelte Algorithmus lernt dabei selbstständig, Symptome und Diagnosen zu erkennen. „Genauso wie ein guter erfahrener Augenarzt immer besser wird, je mehr Patienten er behandelt“, so Schmidt-Erfurth.
Lehrmeinung revidiert
Seit ihrer Erfindung hat die Deep-learning-Methode bereits wesentliche Erkenntnisse zutage gefördert, die bisher gültige Lehrmeinungen in der Augenheilkunde teils völlig über den Haufen werfen. Bisher galt, dass der Sehverlust stark von der Flüssigkeitsmenge und ihrer Verteilung in den einzelnen Netzhautschichten abhängt. Ansammlungen von Flüssigkeit unter der Netzhaut wurden entweder kontinuierlich behandelt oder gleich komplett ausgetrocknet. Umso überraschender war, dass ein Sehkraftverlust laut KI-Analyse nur bei einem Viertel der Patienten durch eine Flüssigkeitsverschiebung in der Retina ausgelöst wird. Vielmehr konnte festgestellt werden, dass Flüssigkeit unter der Netzhaut sogar einen positiven Effekt hat: Das Fluid als Art Puffer zwischen Retina und Sinneszellen trägt scheinbar wesentlich zum Erhalt der Fotorezeptoren bei.
Lösen ließ sich dank der neuen Einblicke auch ein Dilemma in der Behandlung der häufigsten Makula-Erkrankungen. Als Goldstandard für die Behandlung gilt die Injektions- oder intravitreale Therapie, die in Österreich mehr als 100.000 Mal pro Jahr durchgeführt wird. Dabei werden Antikörper in das erkrankte Auge injiziert, wo sie jene Stoffwechselfaktoren hemmen, die krankhafte Gefäßneubildungen oder Schwellungen an der Netzhaut fördern. Die Wahrscheinlichkeit, zu erblinden oder einen schweren Sehverlust zu erleiden, sinkt dadurch von 80 Prozent auf 20 Prozent, die Therapie muss mehrmals pro Jahr wiederholt werden. Unklar war lange, wie viele Injektionen ein Patient tatsächlich benötigt. Diese – für Patienten wie für das Gesundheitssystem – belastende Situation konnte geklärt werden: Inzwischen weiß man, dass lediglich 15 Prozent der Patienten einen besonders aggressiven Krankheitsverlauf haben, der eine monatliche Antikörper-Spritze erfordert. Zwei Drittel der Betroffenen brauchen hingegen nur etwa sieben Behandlungen pro Jahr. Ein schöner Erfolg für das Forscherteam, denn im Sinne der personalisierten Medizin gehe es darum, so Schmidt-Erfuhrt, „so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich zu behandeln“.
Aus OP-Videos lernen
Per moderner Computertechnik kann man auch aus altem, vorhandenen Datenmaterial neue Schlüsse ziehen. An der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt widmen sich Forscher des Instituts für Informationstechnologie und Mediziner des Klinikums Klagenfurt der Analyse von Augenoperationsvideos. Konkret arbeitet das Team an der Entwicklung von Methoden zur automatischen Erkennung kritischer oder irregulärer Phasen in Operationsvideos – etwa von Eingriffen bei einer Trübung der Linse, besser bekannt als „Grauer Star“ (Katarakt). Dieser kann zwar in jeder Lebensphase auftreten, häuft sich aber bei Patienten höheren Alters. Bei dem Eingriff wird die Linse meist durch Ultraschall zerstört und abgesaugt. In Österreich wird die OP jährlich rund 55.000 Mal durchgeführt.
Das Datenmaterial ist damit vorhanden, auch da Augen-OPs mithilfe eines Mikroskops durchgeführt werden, das sich auch mit einer Videokamera ausstatten lässt. Das Projekt mit dem Titel „Relevance Detection in Ophthalmic Surgery Videos“ wird vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert. Die automatische Relevanzerkennung soll forthin auch ermöglichen, Operationsvideos effizienter komprimieren und speichern zu können. Der Startschuss für das innovative Forschungsprojekt fiel Anfang Oktober, mit ersten Ergebnissen rechnen die Wissenschaftler in einem Jahr. Dass die Verschränkung von Medizin und Computertechnik ein Trendthema ist, zeigte sich auch beim heurigen EURETINA-Kongress, zu dem internationale Netzhautforscher im September nach Wien reisten. Erstmals stand das Thema Künstliche Intelligenz im Mittelpunkt, die Vorträge hielten unter anderem Experten von Google oder das Team der MedUni Wien. „Das zeigt, dass der Standort Österreich sehr gut in der High-tech-Medizin mithalten kann“, sagt Schmidt-Erfurth – und richtet gleichzeitig einen Appell an Universitäten, sich im Bereich der digitalen Medizin zu engagieren. Ansonsten würde man das Feld gänzlich privaten Konzernen überlassen – denn auch Google, IBM & Co unternehmen immense Anstrengungen im Bereich der digitalen Medizin.
Augenkontrolle in der Box
In den vergangenen Jahren kaufte etwa Google weltweit Millionen von Medizindaten, alleine in Großbritannien verschaffte das Gesundheitssystem (NHS) dem Unternehmen Zugang zu medizinischen Daten von 1,6 Millionen Patienten. Die Unternehmensforscher zeigten bereits, was Algorithmen alles fertigbringen: So konnten nur auf Basis digitaler Farbfotos des Augenhintergrundes treffsicher Geschlecht, Alter, Raucherstatus, Blutdruck oder auch das Herzinfarkt-Risiko von gut 280.000 Menschen erkannt werden. Science-Fiction-ähnlich klingt auch eine Zukunftsvision, die Ursula Schmidt-Erfurth skizziert. Es handelt sich dabei um eine Art Foto-Automaten, der innerhalb von Sekunden die Augen scannt und das persönliche Risiko für Sehkraftverlust erkennt. Legt das Ergebnis eine mögliche Erkrankung nahe, geht man damit zum Augenarzt. „Wir können mit den Scannern sehr gut voraussagen, ob ein Patient eine Makuladegeneration entwickelt, ob das eine feuchte oder trockene Form sein wird – das ist ganz unerhört neu, das hat es noch nie gegeben“, freut sich Schmidt-Erfurth. Bereits in drei Jahren könnten die ersten dieser Augen-Scan-Automaten in Betrieb gehen, schätzten Experten. „Damit könnte die allgemeine Versorgung der Bevölkerung wesentlich verbessert werden.“
Äußerst relevant wird dieser Ansatz wegen der Alterung der Bevölkerung sowie der damit verbundenen Zunahme von Diabetes, der die feinen Blutgefäße des Auges schwer schädigt. In Anbetracht der dadurch steigenden Patientenzahlen werden bald landesweit Augenärzte fehlen, wie Fachkenner bereits prophezeien. Dem stimmt auch die OPTIMA-Leiterin zu: „Den Bedarf werden wir nicht decken können, wenn wir nicht die KI-Methode verwenden.“ Mit den neuen Methoden der computerisierten Bildanalyse können Diagnosen von Netzhauterkrankungen genauer gestellt werden, als jeder Mediziner das könne.
Bei der Frage, ob man in Zukunft also nicht mehr um Künstliche Intelligenz herumkomme, lächelt die Wissenschaftlerin: Die digitale Medizin sei schon da, davor könne man die Augen nicht verschließen. „Das wäre auch zu schade“, meint sie. Denn: „Man kann mit der gleichen Zahl an Ärzten sehr viel mehr Patienten sehr viel besser behandeln.“
Text: Marlene Erhart, erschienen im Universum Magazin Oktober 2018
