Projekt Beschreibung

Angst Text marlene-erhart.at

Angst begleitet Menschen mit Panikstörung wie ein Schatten. Obwohl krankhafte Ängste zunehmen, erhält nur ein Bruchteil der Betroffenen eine adäquate Behandlung. Ein Panikpatient gibt Einblicke in den tiefen Abgrund und den steinigen Weg zurück ins Leben.

„Ich vergesse nichts von der Todesangst, sie ist nur tief in meiner Erinnerung vergraben“, murmelt Alexander, während er eine Tablettendose in der Hand wiegt. Auf den ersten Blick wirkt der 26-Jährige nicht wie jemand, den die Angst schnell befällt. Groß gewachsen, breite Schultern, verwegener Bart. Doch wenn er von den vergangenen drei Jahren erzählt, verschwindet er manchmal beinahe hinter der dampfenden Tasse Tee, die vor ihm auf dem Tisch steht. Dann sinkt sein Kopf und sein Blick schweift ins Leere – zurück zu Erinnerungen an Momente, in denen er überzeugt war zu sterben. Etwa zu jener Herbstnacht, die sein Leben von Grund auf umkrempelte.

Heftige Zuckungen in Armen und Beinen hatten Alex aus unruhigem Schlaf in eine verstörende Wirklichkeit hochgerissen. Sein Herz hämmerte, als sei er gerade einen Marathon gelaufen. Schweißgebadet fühlte er mit zitternden Händen seinen rasenden Puls, sein Magen verkrampfte sich schmerzhaft, seine Knie knickten fast unter ihm ein. „Ich dachte, ich falle um und sterbe“, beschreibt er die Angst, die in ihm hochstieg. Dazu gesellte sich eine schreckliche Verzweiflung: „Als wären alle Menschen, die ich je geliebt habe, tot. Als könnte ich nie wieder glücklich sein. Und dieses Gefühl hat Stunden gedauert“, erinnert er sich. Um fünf Uhr früh rief er völlig erschöpft die Rettung, glaubte noch an einen Herzinfarkt oder einen epileptischen Anfall. Mit Blaulicht raste der Krankenwagen ins Otto-Wagner-Spital, wo rasch feststand, dass weder Epilepsie noch ein Infarkt hinter den Symptomen standen. Erstmals hörte er von einem Arzt die Diagnose „Panikattacke“ und die Vermutung „Angststörung“. Für Alex begann Ende 2012 ein Spießrutenlauf, der ihn in die Linzer Nervenklinik Wagner-Jauregg, ins Wiener AKH, ins Wilhelminen-Spital, ins Krankenhaus Hietzing und in Dutzende Arztpraxen führte – und der von Panikattacken gesäumt war.

Endstation Irrenhaus

22 Prozent der Bevölkerung erfahren mindestens einmal im Leben den Schrecken einer Panikattacke, bei rund zwei Prozent steigern sie sich bis zur Panikstörung. Neben der Sozialphobie, der Generalisierten Angststörung oder spezifischen Phobien zählt sie der Diagnose-Katalog psychischer Erkrankungen ICD-10 zur Gruppe der Angststörungen. Zwischen zehn und 15 Prozent der Menschen leben akut mit unterschiedlich ausgeprägten Angsterkrankungen – exakte Zahlen sind aufgrund der bescheidenen Datenlage für Österreich schwer zu nennen.

Wird Angst normalerweise durch konkrete Objekte oder Situationen ausgelöst, taucht sie bei Panikpatienten grundlos wie aus heiterem Himmel auf. Charakteristisch und für Betroffene enorm verstörend sind die extremen körperlichen und psychischen Ausprägungen einer Panikattacke. Herzrasen, Zittern, Atembeschwerden, Schmerzen in der Brust, Hitzegefühl oder Kälteschauer gehören ebenso dazu wie Übelkeit, Schwindel, das Gefühl der Selbstentfremdung (Depersonalisation) oder die Angst, verrückt zu werden. Bei einer Panikattacke treten mindestens vier der gesamt 14 Symptome auf. Alex erlebte diese Zustände anfangs mehrmals pro Tag, die Symptome hielten zwischen fünf Minuten und fünf Stunden an. Abseits der körperlichen Beschwerden waren es primär die psychischen Beeinträchtigungen, die ihm zusetzten. Manchmal war er überzeugt, den Verstand zu verlieren, schreiend ins Irrenhaus eingeliefert zu werden – trotz besseren Wissens konnte er die fatalistischen Gedanken in akuten Angstphasen nicht mit rationalen Erklärungen oder Beruhigungsversuchen abschütteln.

Durchleben Menschen über einen Monat hinweg jede Woche mindestens vier Attacken, sprechen Psychologen von einer schweren Panikstörung. Patienten spüren Angst dabei so intensiv, dass jedes geordnete Denken und Handeln unmöglich wird. „Als würdest du auf einem Floß ohne Segel auf offener See treiben, ohne den Kurs irgendwie kontrollieren zu können“, verdeutlicht Alex die Hilflosigkeit, die er während einer Panikattacke empfand.

Fehlgeleitet

Den Betroffenen wird ein Mechanismus zum Verhängnis, der dem Menschen eigentlich als wichtiger Schutz dient: der Angst-Flucht-Reflex. Als grundlegendes menschliches Gefühl bereitet die aufsteigende Angst auf einen bevorstehenden Kampf oder die Flucht als Option vor. Gesteuert wird diese Reaktion vom limbischen System, einem Hirnareal, das eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung von Emotionen spielt. Maßgeblich beteiligt ist der Mandelkern (Amygdala), der in einer Gefahrensituation eine kurze Schockphase einleitet. Für Sekundenbruchteile schaltet das vegetative Nervensystem auf Reaktionsunfähigkeit, damit der Körper im Stillstand Kräfte sammeln und Atem holen kann, bevor die Notfall-Reaktion einsetzt. Das Kurzstresshormon Adrenalin aktiviert gemeinsam mit dem Dauerstresshormon Cortisol schlagartig das Herz-Kreislaufsystem. Atmung, Skelettmuskulatur und Geistesgegenwart sind am Höhepunkt der Leistungsfähigkeit. Gleichzeitig blockiert der Hormoncocktail sämtliche, derweilen nicht lebensnotwendigen Vorgänge wie die Immunabwehr, um alle Energie für die Flucht bereitzustellen.

Diese extreme körperliche Mobilisierung läuft bei realen Gefahren gleich ab wie bei psychischem Stress. Während allerdings der Rottweiler mit gefletschten Zähnen dazu motiviert, rennend das Weite zu suchen, kann die aufgestaute Anspannung bei psychischem Stress aufgrund der fehlenden Bewegung (Flucht) nicht abgebaut werden. Die Konzentration von Stesshormonen im Blut nimmt zu und entlädt sich schließlich blitzartig in einer Panikattacke. Der erste Anfall tritt vorwiegend in Phasen der Entspannung auf, etwa am Abend vor dem Fernseher, beim Zubettgehen oder gar im Schlaf. Im Regelfall äußert sich die erste Attacke heftig und nimmt im Gedächtnis teils traumatisierende Ausmaße an. Da organische Untersuchungen gewöhnlich keine auffälligen Befunde liefern, wird die Sorge um den eigenen, unerklärlichen Gesundheitszustand für Betroffene zur zusätzlichen Belastung. Daneben bleibt die permanente Furcht vor weiteren Panikattacken: „Irgendwann quält dich dann die Angst, wieder Angst zu bekommen“, erklärt Alex die paradoxe Gedankenspirale.

Von der Neurose zur Volkskrankheit?

Die erste Wissenschaftliche Beschreibung der psychisch schwer belastenden Zustände stammt vom Vater der Psychoanalyse: 1895 fasste Sigmund Freud die Generalisierte Angststörung und die Panikstörung unter dem Begriff „Angstneurose“ zusammen. Als Auslöser galten schon ihm interne Reize, also körperliche Empfindungen und Gedanken. Auch stand für ihn fest, „dass das Angstproblem ein Knotenpunkt ist, ein Rätsel, dessen Lösung eine Fülle von Licht über unser Seelenleben ergießen müsste“. Wie komplex angstauslösende Faktoren zusammenspielen, um in Summe eine Panikstörung zu ergeben, zeigen Studien aus unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen. Perfektionismus, genetische Veranlagung, erlernte und anerzogene Ängste, ein Ungleichgewicht gewisser Neurotransmitter oder Veränderungen im vegetativen Nervensystem standen schon ins Visier der Forschung.

Generell nehmen Angststörungen seit den 1980ern weltweit zu, Spitzenreiter ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten: In den USA befinden sich Menschen, die niemals quälende Ängste erfahren, bereits in der Minderheit. Repräsentativen Umfragen zufolge stehen sie 56 Prozent gegenüber, die im Lauf ihres Lebens eine Angsterkrankung entwickeln. Kein Wunder, dass die Ergründung der Ursachen vor allem an US-amerikanischen Universitäten im Fokus steht und interessante Ansätze liefert.

2014 erhob die University of California in Berkeley, wie der eigene soziale Status und die individuelle ökonomische Stellung beim Entstehen von Angststörungen mitmischen. Besonders, wenn Erfolg ausschließlich mit persönlichem Wohlstand und Einfluss gleichgesetzt wird, schleichen sich Angststörungen ein, so die Autoren. Einwohner von Nationen mit hohen Einkommens- und Vermögensunterschieden zwischen Arm und Reich leiden dreimal häufiger an Angsterkrankungen als die Bevölkerung in Staaten mit gleichmäßiger Vermögensverteilung.

Ebenfalls begünstigend wirken erwiesenermaßen hoher Leistungsdruck in Job und Studium sowie eine unsichere Situation am Arbeitsmarkt. Der signifikante Zusammenhang zwischen unkontrollierbar scheinenden Lebensumständen und dem Auftreten pathologischer Ängste wurde schon nach dem Fall der Berliner Mauer beleuchtet: Während im Westen sieben Prozent der Bevölkerung an krankhaften Ängsten litten, waren im Osten mit 16,3 Prozent mehr als doppelt so viele Menschen betroffen. Wachsende Aufmerksamkeit erfährt in der Angstforschung heute auch der moderne Lebensstil: Geschrei, Verkehrslärm, blinkende Lichter und Reklamen, Menschenmengen und überfüllte U-Bahnen machen die Gehirne von Städtern anfälliger für Stress, fand das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim heraus. Für die Studienteilnehmer galt es, mathematische Aufgaben korrekt zu lösen, während sie im Computertomographen (CT) lagen. Auffällig war die Aktivität des Mandelkerns, die auf CT-Bildern deutlich sichtbar wurde. Im Test war das für die Emotionsverarbeitung zuständige Hirnareal bei den in Städten lebenden Probanden aktiver. Es wirkte beinahe so, als reagiere es auf eine reale Gefahr.

Verständlicherweise versuchen Panikpatienten um jeden Preis, alle tatsächlich oder potenziell ängstigenden Situationen zu umgehen. Mehr als die Hälfte der Patienten entwickelt ein phobisches Vermeidungsverhalten – eine scheinbar hilfreiche Strategie, die den Lebensradius nur weiter einschränkt. Jedes reale oder imaginäre Szenario, das als Auslöser eines Anfalls in Frage kommt, wird tunlichst vermieden.

Zehn Monate lang betrat Alex weder U-Bahn, Bus noch Straßenbahn, ging nicht auf belebte Straßen oder in Geschäfte, mied Aufzüge und Autofahrten, zuletzt verzichtete er auch auf Treffen mit Freunden. Aus Scham vertraute er sich nur seiner Freundin an, da er nicht als krank, schwach oder gar verrückt abgestempelt werden wollte. In seinem Umfeld war Alex’ Rückzug Grund für vielerlei Spekulationen, berichtet einer seiner Freunde. „Wir dachten aber eher, dass ihm nichts mehr an der Freundschaft liegt. Mit einer Erkrankung hat das niemand in Verbindung gebracht“, meint er bestürzt. Auf diese Weise driften Panikpatienten nicht selten aus einem regen Sozialleben in die Isolation ab. Schutz bietet der Rückzug in die eigenen vier Wände freilich nicht, lacht Alex bitter, denn „die Angst ist so sicher gekommen, wie am Morgen die Sonne aufgeht.“

Teufelskreis der Angst

Die lebhafte Erinnerung an die erste Panikattacke und ihre Symptome verleitet Betroffene dazu, sich in kritische Selbstbeobachtung zu steigern. Jede harmlose körperliche oder psychische Veränderung wird registriert und – in Ermangelung anderer Erklärungen – als Zeichen höchster Gefahr missinterpretiert. Beginnt das Herz beim Sport schneller zu schlagen, kommt die Angst vor einem Herzinfarkt. Völlegefühl nach einer zu üppigen Mahlzeit weist zweifellos auf Magenkrebs hin, Kopfschmerzen bedeuten in einem von Angst dominierten Leben einen Hirntumor. Jede Woche saß Alex einem anderen Facharzt gegenüber, erzählte bei erhöhtem Blutdruck von der Angst vor einem Herzfehler, bei Husten trieb ihn die Furcht vor Lungenkrebs zum Pulmologen.

Anders als Hypochonder sind Panikpatienten nicht permanent, sondern nur während ihrer Angstepisoden überzeugt, ernsthaft krank zu sein. Im Lauf der Erkrankung können hypochondrische Tendenzen jedoch zu ständigen Begleitern der Angst werden. Generell liegt die Komorbidität – also das gleichzeitige Auftreten mehrerer Krankheitsbilder – bei Menschen mit pathologischen Ängsten sehr hoch. Bei gut 80 Prozent tritt zusätzlich eine Depression auf, Alkoholmissbrauch ist vor allem unter männlichen Betroffenen verbreitet, die seltener als Frauen professionelle Hilfe aufsuchen. „Die Tatsache, dass viele Menschen mit Angststörungen keine adäquate Behandlung bekommen, ist besorgniserregend“, resümierte Johannes Wancata von der Wiener Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 2011 in einem Fachartikel.

Geteiltes Leid – erweitertes Leid

Dem wissenschaftlichen Tenor zufolge hinkt die Behandlungspraxis dem derzeitigen Forschungsstand meilenweit hinterher. Nur 41 Prozent der Menschen mit lebens- einengenden Ängsten erhalten eine Behandlung im weitesten Sinn. Vier Fünftel von ihnen werden lediglich vom Hausarzt betreut, nur 17 Prozent erhalten angemessene psychologische Unterstützung, während 89 Prozent Medikamente nehmen. Sechs unterschiedliche Präparate nahm Alex, bevor die für ihn passende Medikation gefunden war.

Die Mittel der Wahl sind bei Angst und Panik meist Antidepressiva und Tranquilizer – sprich Beruhigungsmittel. Letztere steigern die Wirkung des körpereigenen Hemmstoffs GABA, der die Nervenfunktion abschwächt und dadurch beruhigend und angstlösend wirkt. Doch auch diese Medikamente sind mit Vorsicht zu genießen: Bei den starken Varianten aus der Wirkstoffgruppe der Benzodiazepine entsteht schnell eine Abhängigkeit. Eines dieser äußerst wirkungsvollen Präparate wurde auch Alex verschrieben. Eingenommen hat er die Tabletten nur einmal – im Bei- sein seiner Freundin Laura. Keine zehn Minuten habe es gedauert und Alex sei weg gewesen, erzählt diese. „Er hat ausgesehen wie eine Leiche“, sagt sie schaudernd. „Seine Lippen waren blau, das Gesicht grau und eingefallen, die Augenhöhlen waren dunkel, und er hat ganz flach geatmet.“ Sein Brustkorb habe sich kaum noch gehoben, immer wieder habe sie zur Sicherheit seinen Puls kontrolliert.

Als Zeugin des psychischen Niedergangs ihres Freundes kam Laura in die typische Situation etlicher Angehöriger – statistisch gesehen werden zwei Drittel psychisch erkrankter Menschen von jemandem aus dem nächsten Umfeld umsorgt. „Alex war während einer Attacke nicht mehr zu beruhigen, er ist panisch auf und ab gelaufen, hat wirres Zeug geredet und dachte wirklich, er stirbt“, fasst Laura die belastenden Momente zusammen. Der miterlebte Leidensdruck und die permanente Fürsorge ziehen nach und nach auch die Psyche der Helfer in Mitleidenschaft.

Angehörige leiden nicht nur häufiger an Depressionen als die Normalbevölkerung, sie weisen auch höhere Stresswerte auf, zeigen eine geringere Lebensqualität und eine schlechte körperliche Gesundheit. Ein halbes Jahr nach der ersten Panikattacke war auch Lauras Leben großteils von der Angst bestimmt. „In der Nacht bin ich bei jedem Geräusch hochgeschreckt, weil ich dachte, dass Alex wieder eine Attacke hat“, erinnert sie sich an ihr damaliges Leben. Seit Herbst 2015 geht sie nun wöchentlich zur Gesprächstherapie.

Hyperaktiver Mandelkern

Eine Möglichkeit, Angststörungen verlässlich diagnostizieren oder anhand genetischer Faktoren vorhersehen zu können, liegt bis dato in ferner Zukunft. Ein wichtiger Schritt gelang Wissenschaftlern der Stanford University allerdings mit der Lokalisierung einer Störungsquelle im Jahr 2010. „Menschen mit krankhaften Ängsten sprechen übermäßig stark auf negative Reize an, bisher war aber unklar, warum das so ist“, schildert Studienautor Amit Etkin. In einer Vergleichsstudie zeigte er mittels bildgebender Methoden erstmals die fehlerhafte Rückkoppelung zweier für die Gefühls- und Angstregulation zentraler Hirnareale.

17 Angstpatienten und 24 gesunde Probanden sahen, während sie im CT lagen, abwechselnd Bilder von glücklichen oder ängstlichen Gesichtern. Darüber erschien „glücklich“ oder „ängstlich“, wobei die Begriffe nicht immer mit der dargestellten Emotion (Angst oder Freude) übereinstimmte. Alle Teilnehmer sollten die Fotos schnellstmöglich bewerten, die Forscher maßen derweil die Reaktionszeit und verglichen sie mit den CT-Bildern. Ließen sie mehrere falsch kombinierte Wort-Bild-Paare aufeinander folgen, wurde bei den gesunden Teilnehmern ein Areal im vorderen Bereich der Großhirnrinde aktiv: der Anteriore Cinguläre Cortex. Danach reagierten die Teilnehmer plötzlich schneller auf die Bilder.

Die Aktivität im Cortex drosselte die Aktivität im Mandelkern, wodurch negative Emotionen reguliert und richtig eingeschätzt werden können. Bei den Angstpatienten fehlte indes die Aktivität im Anterioren Cingulären Cortex, ihr Mandelkern arbeitet ungebremst weiter. Statt einer Gewöhnung an negativ Behaftetes, etwa traurige Gesichter, lösen diese konstant Angst und Unbehagen aus.

Um den übereifrigen Mandelkern in den Griff zu bekommen, empfehlen die Forscher eine Kombination aus Medikamenten und kognitiver Verhaltenstherapie. Bestätigt wurde die Empfehlung im Herbst 2014 von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore, die dafür Daten aus 101 klinischen Studien mit mehr als 13.000 Teilnehmern analysierte.

Angst thematisieren

Die kognitive Verhaltenstherapie setzt sich mit der persönlichen Bewertung von Situationen und der daraus resultierenden Reaktion auseinander. Patienten lernen, dass sie gewisse Situationen nicht beeinflussen können – sehr wohl aber, ob sie diese positiv, negativ oder neutral sehen. Das zugrunde liegende Zusammenspiel von Denken, Fühlen und Handeln beschäftigte schon den griechischen Philosophen Epiktet, der meinte: „Es sind nicht die Dinge, die uns ängstigen, sondern unsere Sicht auf die Dinge.“ Dementsprechend hilft gut geführte Verhaltenstherapie Betroffenen, charakteristische Denkmuster zu erkennen und in ängstigenden Momenten einen neuen Blickwinkel einzunehmen. Künftig soll durch diese Re-Konditionierung bei Gefahren nicht vom Schlimmsten ausgegangen werden. „Wenn Laura nicht ans Telefon geht, steht nicht zwingend eine Entführung dahinter“, führt Alex schmunzelnd aus.

Die Verhaltenstherapie sei für seine Genese unabdingbar gewesen – auch wenn er sie sich in den ersten Monaten nicht leisten konnte. Die Krankenkasse übernimmt bei Privatärzten nur einen Bruchteil der Kosten, die sich gut und gerne auf 100 Euro für eine 50-minütige Sitzung belaufen können. In Wien schießt die Gebietskrankenkasse für die Psychotherapie bei einem Wahlarzt rund 21 Euro pro Sitzung zu. Einen Kassenplatz mit voller Kostenübernahme zu ergattern, kann bei dem nötigen bürokratischen Aufwand und der obligatorischen Bewilligung durch den Chefarzt für jemanden, der Angst hat, das Haus zu verlassen, Monate dauern. Momentan sind in Wien nur zwei der begehrten Plätze auf Krankenschein frei.

Was Alex sich heute – auch im Sinne anderer Betroffener – wünscht, ist mehr Aufklärung. „Um das Verständnis für Angststörungen in der Gesellschaft zu steigern, ansonsten fühlt man sich ständig ausgegrenzt und minderwertig“, erklärt er. „Denn auch das Verstecken kostet viel Kraft.“

Erschienen im Universum Magazin, Februar 2016
Angst Text marlene-erhart.at
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