Projekt Beschreibung

Qualle Text marlene-erhart.at

Quallen sind durchsichtig, doch keineswegs durchschaubar. Hypnotisch schwebende Tentakel, fantastische Formen und Farben ergeben Wesen, die rätselhafter kaum sein könnten. Während die Forschung sie langsam ergründet, feiert der Tiergarten Schönbrunn Zuchterfolge.

Flotten Schrittes geht es über Eisenstufen abwärts. Vorbei an ausladenden Wasserbecken und dröhnenden Filteranlagen, hinein in die feuchte Luft eines unterirdischen Labyrinths niedriger Gänge und hoher Aquarien. Feuchte Hitze und Fischgeruch schlagen einem entgegen. In halbrunden Becken schweben geisterhaft weiße und rotbraune Medusen. Zielstrebig marschiert Roland Halbauer in Gummistiefeln seinem Reich entgegen – der Quallenzuchtstation des Wiener Tiergartens Schönbrunn. Gut 500 Kilometer vom nächsten Meeresstrand entfernt gedeihen hier 28 Arten jener Nesseltiere, deren aufwendige Pflege einen Mix aus Experimentierfreude, Geduld und Einfühlungsvermögen fordert. „Quallen verzeihen keinen einzigen Fehler“, sagt Tierpfleger Halbauer und stoppt abrupt vor einem Becken Ohrenquallen. Dann führt er aus, was andere Menschen wohl tunlichst vermeiden würden. Behutsam streicht er mit der Hand durch den Schwarm jener bläulich schimmernden Quallen, die im August 2013 im Nordwesten Englands den gesamten Badebetrieb lahmlegten. „Sie sind so giftig wie andere Quallen, haben aber schwach ausgeprägte Nesselzellen, die die Haut nicht durchdringen“, beruhigt er. Dennoch ist eine Handwäsche nach der Streicheleinheit obligat, da die Nesselkapseln der Tiere haften bleiben und beim nächsten Kontakt mit Auge oder Mund gehörig schmerzen würden. Mittlerweile kennt Halbauer seine Schützlinge jedoch in- und auswendig und zählt mit seinem Wissen zu einem international erlesenen Expertenkreis. Seiner Arbeit ist es zu verdanken, dass der Tiergarten Schönbrunn weltweit unter den Zoos mit der größten Quallenvielfalt rangiert. Ironischerweise gelingt ihre Haltung und Zucht nur unter größter Anstrengung, während ihre explosionsartig steigende Zahl in freier Natur vielerorts zur Plage gerät. Seit einigen Jahren fließen Millionenbeträge in die Grundlagenforschung, die klären soll, unter welchen Voraussetzungen sich die für Tourismus, Fischerei und Schifffahrt problematisch gewordenen Meeresbewohner vermehren.

Nutznießer der Abwärtsspirale

„Quallen profitieren irrsinnig vom Menschen, ihnen spielen die globale Erwärmung und die Verschmutzung der Ozeane mit nährstoffreichen Abwässern zu“, erklärt Anton Weissenbacher, Leiter des Aquarienhauses in Schönbrunn, die rasant wachsende Population der Tiere. Das äußere sich etwa im Umstand, dass bis lang keine einzige bedrohte Quallenart bekannt sei. Denn das in warmen, nährstoffreichen Ozeanen munter gedeihende Plankton garantiert die Verpflegung der Qualle und die Fortpflanzung in ihren beiden Daseinsformen: dem festsitzenden Polyp und der frei schwimmenden Meduse. Ihr Lebenszyklus bildet dabei einen stetigen Kreislauf, in dem zwei Arten der Reproduktion existieren: Ähnlich einer Pflanze vervielfacht sich der Polyp, indem er weiterknospt und aus seinem Organismus als Ephyra bezeichnete Larven abschnürt. Sie wandeln sich zu Quallen, die sich ihrerseits mittels Eizellen und Spermien geschlechtlich vermehren. „So farbenprächtig und formvollendet sie aussieht, die ausgewachsene Qualle ist lediglich Mittel zum Zweck“, erläutert Weissenbacher. Ihr Liebesakt sichert die genetische Vielfalt ihrer Art und deren Verbreitung über große Distanzen. Aus den befruchteten, teils weit vertragenen Eiern schlüpft die Planulalarve, die, vom Geruch bakterienreicher Böden angelockt, auf substrathaltigem Untergrund haften bleibt und zum Polypen reift. „Damit schließt sich der Kreis“, so Weissenbacher. Auch am Anfang der Quallenzucht in Wien steht der wenige Millimeter große Polyp – und der stellt seine Züchter vor beträchtliche Herausforderungen: Die Bedingungen, unter denen er die nächste Larvengeneration freisetzt, variieren bei jeder der rund 6000 bekannten Quallenarten.

Rezept für Baby-Quallen

Nur wenige schriftliche Dokumente oder rare Erzählungen von Fachkollegen beschreiben den Vermehrungsprozess, in den meisten Fällen muss experimentiert werden. So ähnelt die Zucht eher dem Versuch, den Lieblingskuchen aus Großmutters Küche nachzubacken. „Man hört, wie es geht, ahmt es streng nach Anweisung nach und trotzdem schmeckt er nicht, wie er soll“, lacht Weissenbacher. „Da wird man schon böse und glaubt, sie verheimlicht einem eine Zutat – dabei rührt sie nur länger.“ Im Keller des Schönbrunner Aquarienhauses hantiert Roland Halbauer daher stundenlang an Thermometern, reguliert den Wasserstrom der Kreiselbecken und beobachtet mit Argusaugen, was hinter den Glasscheiben passiert. Von Strömungsstärke und Wassertemperatur über Lichtintensität bis hin zur Bakterienzusammensetzung muss jeder Faktor exakt stimmen. Seit die Quallenzucht in Schönbrunn im Jahr 2000 ihren Ausgang nahm, optimierten Weissenbacher und sein Team sämtliche Arbeitsschritte und können heute bereits 25 Arten erfolgreich vermehren – drei davon sogar über die Fortpflanzung ausgewachsener Exemplare. Diese Resultate brachten den Spezialisten neben internationaler Anerkennung zuletzt eine Einladung ins japanische Kamo-Aquarium ein. Im November werden zwei Tierpfleger, darunter auch Halbauer, den dortigen Experten über die Schulter schauen, um die letzten Feinheiten der Zucht zu erlernen. Darüber hinaus zählt der Zoo Schönbrunn seit kurzem zu den Mitgliedern des AZA Jellyfish Listserv, „einem Forum für Quallenfanatiker, bei dem man nur auf Einladung mitmachen kann“, beschreibt es Weissenbacher. Experten aus aller Welt teilen dort ihre Erfahrungen und stellen Polypen aus eigener Zucht zur Verfügung. In regelmäßigen Abständen werden auch aus Wien Quallen an andere Zoos verschickt, teils sogar auf Abruf gezüchtet. „Wir kennen den Lebenszyklus vieler unserer Arten und wissen, wann wir die Temperatur im Becken angleichen müssen, um die Teilung der Polypen hinauszuzögern oder auszulösen“, erklärt Halbauer. Nach rund zwei Wochen habe man dann eine Qualle im Miniformat.

Vergänglich, doch unverwüstlich

Können die Tiere auf Bestellung gezüchtet werden, hat ihr Leben doch ein festgelegtes Ablaufdatum. Der Tod der Medusen sei genetisch fixiert, erklärt Halbauer, während er seine beiden „Nikoloquallen“ betrachtet. Die Kompassquallen sind derzeit im Aquarienhaus zu bestaunen und würden am 6.Dezember 2014 ein Jahr alt. „Hoffentlich schaffen sie es“, meint der Tierpfleger und zeigt auf vereinzelte hellen Flecken am orangefarbenen Schirm der hypnotisch umherschwebenden Riesen. Sie sind die ersten Anzeichen für den Verfall der Tiere. Mag die Zeit der beiden Schönheiten verrinnen, der Fortbestand ihrer Art bereitet Halbauer keine Sorgen. Schon vor 600 Millionen Jahren bevölkerten sie die Urmeere, weder verheerende Meteoriteneinschläge noch ökologische Katastrophen vermochten ihnen etwas anzuhaben. Selbst die Ölpest im Golf von Mexiko, die 2010 die marine Vielfalt der Region drastisch schmälerte, vertrieb sie nicht aus den verseuchten Gefilden. „Der Mensch kann der Welt antun, was er will“, schmunzelt Halbauer, „Quallen werden es überstehen und auch in 600 Millionen Jahren noch durch die Ozeane gleiten“.

Erschienen im Universum Magazin, Oktober 2014
Qualle Text marlene-erhart.at
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