Projekt Beschreibung

Knochenbrüche und Knorpelschäden mit High-tech-Methoden auszuheilen, gehört zu den Paradedisziplinen heimischer Wissenschaftler: Weltweit kommen in komplizierten Fällen Therapien und Produkte aus Österreich zum Einsatz. In hiesigen Labors tüfteln die klügsten Köpfe an weiteren medizinischen Meilensteinen – mithilfe von Stammzellen und 3D-Druck, Vitamin C und implodierenden Gasbläschen.
„Was für ein Chaos“, lacht Heinz Redl und schiebt einen Strauß Tulpen beiseite. Noch kurz die Flasche Wein vom Schreibtisch geräumt und schon ist Platz für die Kaffeetassen. „Normalerweise schaut es hier nicht so aus“, brummt der Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für experimentelle und klinische Traumatologie (LBI Trauma) mit Blick auf die überhandnehmenden Geschenke. „Aber ich kann ja nur alle vier Jahre Geburtstag feiern“, schiebt er mit breitem Grinsen nach. Für den Chemiker und Ultrastrukturforscher lieferte heuer nicht nur das Schaltjahr Grund zum Anstoßen: Im März vor zehn Jahren rief er den Forschungscluster für Geweberegeneration ins Leben, in dem mittlerweile fünf österreichische Universitäten, das LBI Trauma sowie die Blut- und Gewebebank Linz in zwölf Fachgruppen zusammenarbeiten. „Das erleichtert den transdisziplinären Austausch von Wissen, Forschern und Geräten und lässt uns zielgerichtet arbeiten“, erläutert Redl. Sein Team am LBI Trauma wird daher auch grundsätzlich von einem Unfallchirurgen verstärkt. „Damit wir wissen, welche Ideen und Herangehensweisen im OP benötigt werden und Sinn machen“, so der Verfechter fächerübergreifender Kooperationen.
Profitieren sollen davon letztlich Patienten, die mit Gelenksproblemen, krankheits- oder unfallbedingten Knochenschäden oder Knorpelverletzungen kämpfen. In ihrem Sinne konzentriert der Cluster alle Arbeit auf die Verbesserung bestehender Behandlungen und die Entwicklung neuer, nicht- oder minimal-invasiver Heilungsverfahren. Aufwendige Operationen könnten dadurch zur Ausnahme werden, an ihre Stelle soll die natürliche Regenerationskraft des Körpers treten. Wie diese durch Impulse von außen angefacht werden kann, steht im Zentrum der Forschungsarbeit des LBI Trauma.
Knochen-Flüsterer
Der Aufbau neuer Knochensubstanz wird von speziellen Eiweißstoffen, den Wachstumsfaktoren, dirigiert. Diese knochenmorphogenetischen Proteine (BMPs) werden mittlerweile biotechnologisch (rekombinant) für den Medizinmarkt hergestellt. „Doch warum soll ich die teuer einkaufen oder produzieren“, fragt Redl: „Die Zellen sollen die selbst bilden.“ Bleibt die Herausforderung, der Zelle eines Patienten zu erklären, doch bitte etwas schneller Wachstumsfaktoren zu produzieren.
Der am LBI Trauma bevorzugte, da nicht-invasive Weg führt über Stammzellen als Informationsträger und Ultraschall als Türöffner. Verabreicht man Stammzellen einen Cocktail chemischer Substanzen, gemixt aus Hormonen, Vitamin C und Phosphat zur Kalziumeinlagerung, wandeln sie sich in knochenbildende Zellen um. Derart präpariert tragen sie den Code zum Knochenaufbau in sich, werden an der gewünschten Stelle injiziert und von Zellen der Umgebung aufgenommen. Die Zellmembran – als letzte Barriere – wird durch kurze Stromstöße geöffnet (Elektroporation), woraufhin die Erbinformation einwandern kann.
Ein anderer Weg in die Zelle führt über die am LBI Trauma entwickelte Sonoporation: Lokal wird ein Kontrastmittel gespritzt, die enthaltenen Gasbläschen werden mit exakt abgestimmten Ultraschallstößen zum Implodieren gebracht. Punktgenau entsteht hohe Energie, welche die zuvor verabreichte DNA in die umliegenden Zellkerne katapultiert. In Versuchsreihen mit Ratten schlug die Therapie hervorragend an. „Wir spritzen das in den Muskel und haben nach zwei Wochen neuen Knochen“, freut sich Redl.
Trägermaterial
Stabile, bruchsichere Knochen entstehen durch perfekt austarierte Einlagerung von Mineralien: Zu wenig davon und der Knochen wird weich, ein Überschuss macht die Gebeine starr und brüchig. Einer, der die Strukturen von Knochengewebe wie kein Zweiter zu analysieren weiß, ist der Materialforscher Klaus Klaushofer. Er leitete das Ludwig Boltzmann Institut für Osteologie, das den Forschungscluster für Geweberegeneration um eine wortwörtlich substanzielle Komponente erweitert. In der Forschungseinrichtung stehen einerseits der gesunde Knochen und seine Veränderung durch Erkrankungen im Mittelpunkt. Andererseits beobachten und bewerten die Wissenschaftler den Erfolg medizinischer Behandlungen und prüfen, wie diese die Knochenzusammensetzung verändern. Patienten kann diese Kontrolle böse Überraschungen ersparen, denn nur weil eine Therapie das Knochenwachstum ankurbelt, heißt das nicht, dass die gebildete Substanz von hoher Qualität ist. Prominentes Exempel für eine vermeintlich hilfreiche Medikation war die Fluor-Therapie: Die Präparate führten zwar zur Anreicherung von Knochengewebe, bei genauer Betrachtung erwies sich dieses allerdings als erschreckend porös und anfällig für Frakturen.
Für Gutachten dieser Art steht dem LBI Osteologie eine Palette komplexer Messmethoden zur Verfügung. „Weltweit kann kaum ein anderes Institut aus einer Knochenprobe ähnlich viele Informationen ziehen wie wir“, hebt Klaushofer die Stärke des Instituts hervor. Regelmäßig gehen Sendungen von Kliniken und Universitäten aus New York, Montreal oder Auckland in Wien zur Analyse ein. Österreich ist nicht nur die erste Adresse, wenn bei rätselhaften Gebrechen Ursachenforschung gefragt ist. Die Konzentration von Kompetenzen zieht auch renommierte Wissenschaftler ins Land.
Zellen werden müde
Unter diesen ist Darja Marolt, die bis vor Kurzem dem New Yorker Stem Cell Foundation Labor vorstand und bereits an der Columbia University und am MIT beschäftigt war. Ab Herbst sucht die Mikro- und Biotechnologin zusammen mit Heinz Redl am LBI Trauma nach Mitteln und Wegen, um Zellen und Stammzellen zu verjüngen. „Wir haben das Problem, dass Zellen – wie der Mensch auch – im Alter müde werden“, zeigt Redl eine Schwachstelle der Gentherapie auf. Ähnlich müde würden auch Stammzellen dabei, neuen Knochen zu bilden. „Mit einigen Tricks wollen wir versuchen, den Zellen eine Verjüngungskur zu verpassen“, meint er augenzwinkernd. Drei Jahre hat das Projektteam für dieses Unterfangen Zeit.
Von den gewonnenen Einblicken und eventuellen Ergebnissen könnte auch die heutzutage vergleichsweise unausgereifte Knorpelregeneration profitieren. Leichte und mittelschwere Abnutzungen dieser Pufferzone können mittels Transplantation eigener Knorpelzellen zwar gelindert werden, der Eingriff wird bei Patienten allerdings nur bis zum Alter von etwa 55 Jahren ausgeführt – danach gelten die körpereigenen Zellen als, wenig schmeichelhaft, zu alt und träge.
Verstecktes Volksleiden
„Alle derzeit verfügbaren Therapien lindern nur die Symptome und hinken dem Problem hinterher“, findet Sportmediziner und Orthopäde Stefan Nehrer ernüchternde Worte, wenn es um Knorpeldegeneration geht. International gilt Nehrer als Pionier der Knorpelzelltransplantation, er leitete heute das Zentrum für Regenerative Medizin und Osteologie (ZRM) an der Donau-Uni Krems. Die Universität bildet einen Eckpfeiler des Technopol Krems, wo rund 170 Forscher aus verschiedenen Einrichtungen an Innovationen in Gesundheitstechnologien feilen.
In diesem interdisziplinären Umfeld sucht Nehrer Lösungen für die diversen Schwierigkeiten, die den Knorpelabbau so tückisch machen. Da der Knorpel keine Nerven besitzt, verläuft sein schleichender Abbau völlig schmerzfrei – und somit auch unbemerkt. Obwohl etwa Arthrose in der Bevölkerung zunehmend um sich greift, wird sie größtenteils erst diagnostiziert, wenn es für sanfte Behandlungen zu spät ist.
Im Fokus eines aktuellen Forschungsprojekts am ZRM steht daher die Früherkennung von Knorpel- und Knochendefekten. „Derzeit verwendete Messmethoden lassen die Gesamtstruktur des Gelenks außer Acht, in der aber die Komponenten Bänder, Sehnen, Knochen und Knorpel interagieren“, zeigt Nehrer die Schwächen der Diagnosepraxis auf. „Wir haben uns deshalb angeschaut, wie Arthrose den darunter liegenden Knochen verändert, und bemerkt, dass jede Knochenveränderung mit einer Veränderung des Knorpels einhergeht.“ Vom Aussehen des Knochens können Nehrer und sein Team auf den Knorpel schließen und den Stand des Abbaus bestimmen. Künftig sollen Ärzte damit exakte Diagnosen stellen und Degenerationen schon vor dem kompletten Funktionsverlust erkennen und behandeln können.
Im Gegensatz zum Knochen brauche man beim Knorpel nicht auf eigenständige Heilung hoffen, „wenn der einmal weg ist, entsteht auch kein neuer Knorpel“, so Nehrer. „Das Gewebe besteht hauptsächlich aus Kollagen, maximal fünf Prozent machen Zellen aus, die ein großes und komplex aufgebautes Areal verwalten müssen.“ Die spärlich gesäten Knorpelzellen sind biosynthetisch noch dazu eher inaktiv, bei Verletzungen agieren sie wesentlich langsamer als Vernarbungszellen. Anstatt zu regenerieren, vernarbt das Gewebe.
Große Hoffnungen liegen derzeit auf ganzheitlichen Ansätzen, die zur Entzündungshemmung und schnelleren Wundheilung Blutprodukte (etwa plättchenreiches Plasma, kurz PRP) einsetzen und diese mit Hyaluronsäure kombinieren. Dass Hyaluronsäure die Schmierfunktion im Gelenk erhält, galt als gesichertes Wissen – Nehrer und Kollegen vermuteten jedoch, dass sie auch den Knorpelabbau und Entzündungen hemmen kann. Wie die Wissenschaftler in Studien herausfanden, hält die im Bindegewebe vorkommende Substanz das gesamte physiologische Gleichgewicht im Gelenk aufrecht. In Folge gelang es den Forschern, Hyaluronsäure so zu modifizieren, dass sie Reizungen verstärkt beruhigt und bereits bestehende Entzündungen lindert.
Neue Materialien
Die Vernetzung unterschiedlicher Institutionen und Fachexperten zieht auch ausländische Unternehmen in die Wachau. 2003 baute die Firma Arthro Kinetics in Krems eine industrielle Tissue-Engineering-Produktion auf und verlegte 2008 auch ihre Forschungs- und Entwicklungsarbeit von Saarbrücken nach Niederösterreich. Ausschlaggebend für die Standortwahl sei das Know-how gewesen, das in Krems vorhanden ist, erläutert Geschäftsführerin Sylvia Keßel. Wissenstransfer und gemeinsame Forschung seien Triebfedern für zielgerichtete und effiziente Produktentwicklung, durch die Nähe zur Donau-Universität ergäben sich laufend Kooperationsmöglichkeiten, so Keßel. Die Hochschule war auch an der Weiterentwicklung eines zellfreien Implantats beteiligt, das in Kliniken von Asien bis Südamerika Anwendung findet. Kleinere Schäden in Schulter, Sprunggelenk, Knie oder Hüfte können mit dem Ersatzmaterial aufgefüllt werden, das von Zellen aus der Umgebung besiedelt wird. CaReS 1S (Cartilage Regenerative System-OneStep) – so nennt sich dieses Material – erspart Patienten den Eingriff zur Gewinnung körpereigener Zellen, der für die Herstellung eines eigens gezüchteten Implantats nötig wäre.
Eine Möglichkeit, um auch Knochenersatz so zu gestalten, dass er im Körper in eigene Knochensubstanz umgebaut wird, verfolgt die Technische Universität Wien. Drei Institute sind im Forschungscluster verankert, denen im Bereich des „Bioprinting“ zuletzt bereits große Fortschritte gelangen. Am Institut für Werkstoffwissenschaft und Werkstofftechnologie wird nach Materialien gesucht, die als Bio-Tinte für den 3D-Druck infrage kommen. Vorbild ist dabei die natürliche, faserartige Struktur des Knochens, dem spezielle Biokeramiken nachempfunden wurden. Ein wichtiger, da auch körpereigener Baustein ist dabei Calciumphosphat. Es verringert die Gefahr einer Abstoßung und wird im Körper bei der Erneuerung des Knochengewebes schlichtweg mit eingebaut.
Generell schreitet der 3D-Druck derzeit in Riesenschritten voran – so arbeiten Forscher der Med-Uni Graz gemeinsam mit Kunststofftechnologen der Montan-Uni Leoben an einem Verfahren, mit dem Implantate direkt während einer Operation passgenau hergestellt werden können.
Auf dem Weg nach gestern
Neue Produkte am europäischen Markt zu etablieren, sei heute ohne (finanzkräftige) Firmen im Hintergrund unmöglich, klingt es durch die gesamte Branche. Im Forschungscluster für Geweberegeneration wird das erarbeitete Know-how daher in zwei Spin-off-Firmen verwertet und auch an andere österreichische Betriebe weitergegeben. Vielversprechende Therapieansätze gehen dort nach etlichen vorgeschriebenen Kontrollen der Marktreife entgegen. „Als Forschungseinrichtung können wir das Zulassungsverfahren mit allen obligatorischen Standardtests und klinischen Studien nicht mehr finanzieren“, beklagt Institutsleiter Redl die Lage am LBI Trauma. Verschärft haben sich die Bedingungen, seit 2009 eine Richtlinie der EU-Kommission zur Handhabung von „Arzneimitteln für neuartige Therapien“ in Kraft trat – sie betrifft Ansätze und Produkte, die lebende Zellen einbeziehen.
Allein die Kosten für die nötigen klinischen Studien machen zumindest 20 Millionen Euro aus. Neben der Grundlagenforschung stoßen dadurch auch kleinere Betriebe an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit, wie ein Rückschlag beweist, den Arthro Kinetics beim Produkt CaReS hinnehmen musste. „Wir waren damit in Österreich sehr gut vertreten, bis die Gesetzesänderung eine klinische Studie nötig gemacht hätte. Von der Realität war diese Auflage längst überholt, schließlich haben wir das Implantat schon lange davor erfolgreich bei hunderten Patienten angewandt“, lacht Geschäftsführerin Keßel ungläubig. Heute vertreibt das Unternehmen das Implantat nur noch außerhalb der EU, bei neuen Produktideen zieht man diese nicht mehr als Absatzmarkt in Betracht. „Ich bin schneller mit 30 Produkten in Mexiko vertreten als mit drei Produkten in Österreich“, beschreibt Keßel die abstruse Situation, der Wissenschaftler und Firmen gleichermaßen gegenüberstehen.
„Dadurch geht so viel verloren, manche Forschungen können wir schon heute nicht mehr machen“, bestätigt auch Heinz Redl. Frustrierend nennt er jene Momente, in denen er an ausgefeilten und vielversprechenden Techniken der Knochenregeneration forscht – und sich dann plötzlich fragen muss: „Kann ich das überhaupt jemals anwenden?“
Erschienen im Universum Magazin, April 2016
