Projekt Beschreibung

Es ist ein großer Schritt nach vorne, den die Medizin in der Versorgung frühgeborener Babys in den letzten Jahren gemacht hat. Dem Motto „Less is more“ folgend, krempelte auch das AKH Wien frühere Pflegeansätze um – und feiert damit bedeutende Erfolge: So überleben immer mehr extrem unreif geborene Kinder, die zudem immer weniger gravierende Folgeschäden davontragen.
Vorsichtig hebt Katrin Klebermass-Schrehof die Decke, die den Brutkasten abdunkelt. In einem Bündel fest gewickelter Tücher liegt einer der kleinsten Patienten des Landes. Der Bub würde locker auf der Länge eines Unterarms Platz finden. Ein erstauntes „wie winzig der Kleine ist“ kann man sich beim Anblick des Frühchens nicht verkneifen. „Winzig?“, lacht Katrin Klebermass-Schrehof ungläubig. „Vor ein paar Wochen war er halb so groß“, erklärt die stellvertretende Leiterin der Abteilung für Neonatologie, Pädiatrische Intensivmedizin und Neuropädiatrie des AKH Wien.
Zwischen 37 und 42 Wochen wachsen Kinder im Mutterleib heran – wenn es zu keinen Komplikationen kommt. Doch jedes Jahr erblicken weltweit beinahe 15 Millionen Kinder zu früh das Licht der Welt. Wird ein Baby vor der abgeschlossenen 37. Schwangerschaftswoche geboren, spricht man von einer Frühgeburt. Noch in den 1980er-Jahren hatten Kinder, die vor der 30. Schwangerschaftswoche und mit einem Gewicht von unter 1000 Gramm geboren wurden, kaum eine Chance zu überleben. Schafften es die Frühchen dennoch, blieben oft schwere Beinträchtigungen zurück.
Ein gesünderes Überleben
Inzwischen gelingt es der Medizin, selbst extrem kleine Frühgeborene zu retten und gar 400 Gramm schwere Winzlinge durchzubringen, die nach nur 24 Wochen im Mutterleib zur Welt kommen. An den Stationen der Neugeborenenmedizin (Neonatologie) des AKH Wien werden jedes Jahr gut 180 Babys versorgt, die mit einem Gewicht von unter 1500 Gramm zur Welt gekommen sind. Hinzu kommen zwischen 80 und 100 extreme Frühgeburten, die weniger als 1000 Gramm wiegen. „Unser Ziel ist es, eine gute Entwicklung ohne Folgeschäden zu ermöglichen, und das gelingt in den letzten Jahren immer besser“, freut sich Klebermass-Schrehof. Zwischen 85 und 90 Prozent liegt die Überlebenschance von Kindern, die ab der 24 Schwangerschaftswoche zur Welt kommen. Dreiviertel dieser Kinder entwickeln sich im weiteren Verlauf ohne Probleme. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren lag die Überlebenschance bei einer derartigen Frühgeburt bei maximal 40 Prozent.
Wenn aus Untersuchungen hervorgeht, dass das Kind über die Plazenta nicht gut versorgt ist oder es sich nicht (normal) entwickelt, wird die Geburt aus Sicherheitsgründen geplant eingeleitet. Denn auch wenn es der Name nahelegt, erblicken Frühgeburten häufig nicht einfach so zu früh das Licht der Welt. Zwar gibt es Frühgeburten durch vorzeitige Wehen oder einen vorzeitigen Blasensprung, daneben gibt es aber eben auch andere Probleme in der Schwangerschaft, etwa Infektionen, aufgrund derer man das Kind vorzeitig holen muss. 60 bis 80 Prozent der Frühchen kommen am AKH Wien per Kaiserschnitt zur Welt. Solche geplanten Geburten erlauben es den Ärzten, schwangere Frauen und auch den Fötus auf die Entbindung und die Zeit danach vorzubereiten. So wird etwa Magnesium als Schutz für das kindliche Gehirn verabreicht (da das Spurenelement Hirnblutungen vorbeugen kann) und auch eine Substanz injiziert, welche die Lungenfunktion verbessert.
Falsches Bild von Frühchen
Einst herrschte die Meinung vor, dass Frühchen ohnehin alle krank seien und Defizite hätten. Doch dem widersprechen Fachleute vehement. Medizinisch gesehen ist die Frühgeburt an sich zwar eine Pathologie, da Kinder in dieser Lebensphase nicht außerhalb des Körpers der Mutter sein sollten. Dennoch seien die betroffenen Babys nicht per se krank, sondern eben einfach zu früh geboren, unterstreichen Experten.
Ob Frühchen beeinträchtigende gesundheitliche Langzeitfolgen davontragen, hängt vorwiegend von (eventuell) auftretenden Komplikationen ab. „Ein Kind mit Hirnblutungen wird mehr Folgeschäden davontragen, und ein Kind, das aufgrund einer Darmproblematik nicht so viele Kalorien aufnehmen und dadurch nicht so schnell wachsen kann, wird im späteren Leben mehr Probleme haben“, erklärt Klebermass-Schrehof. Bleibende geistige Beeinträchtigungen resultieren heutzutage meist aus Sauerstoffmangel und Minderdurchblutung, schweren Infektionen oder Hirnblutungen, wie sie bei extrem frühgeborenen Babys auftreten können. Lange vor dem Geburtstermin zur Welt zu kommen, kann die körperliche und geistige Entwicklung verzögern, wie dies Studien belegen. Obwohl die meisten Frühchen bis zum Schuleintritt körperliche Defizite aufgeholt haben, kämpft rund ein Drittel von ihnen mit dauerhaften emotionalen, sozialen und kognitiven Schwierigkeiten.
Frühgeborene Kinder haben zudem ein höheres Risiko, im späteren Leben Lungenkrankheiten wie Asthma zu entwickeln. Hier gilt es allerdings zu relativieren: „Teilweise werden diese Kinder durch die Handlungen, die wir setzen müssen, krank oder bekommen dadurch Probleme“, erklärt Klebermass-Schrehof. „Wir wissen heute, dass möglichst wenig Intensivmedizin, also wenige Eingriffe in die Atmung und den Kreislauf der frühgeborenen Kinder, langfristig ein besseres Ergebnis bringt.“
Spritze als Atemgeber
Viele Langzeitfolgen sind zumindest teilweise das Resultat der ehemals gängigen Versorgungspraxis. Dazu gehören allen voran Probleme mit den Atmungsorganen, die sich im späteren Leben oft in chronischem Asthma oder häufigen Lungenentzündungen manifestieren. Wie man heute weiß, können diese gesundheitlichen Langzeitfolgen durch die künstliche Beatmung der Frühchen ausgelöst werden. Obwohl diese Situation durch sanftere Beatmungsmethoden entschärft werden konnte, bleiben die unausgereiften Atmungsorgane eine der größten Herausforderungen, mit denen Frühchen und Mediziner konfrontiert sind. Um dem Organismus des Kindes noch vor der Geburt eine Starthilfe zu geben, bedient man sich der „Lungenreifungsspritze“.
Dafür wird auf den Arzneistoff Cortison zurückgegriffen, der die Lungenzellen des Fötus zur Produktion der Substanz „Surfactant“ (ein englisches Kunstwort, das von surface active agent abgeleitet wird) anregt. Dieses Lipoprotein der Lunge wird im kindlichen Körper gewöhnlich erst zwischen der 34. und 36. Schwangerschaftswoche gebildet und sorgt dann dafür, dass die Oberflächenspannung der noch mit Flüssigkeit gefüllten und noch nicht entfalteten Lungenbläschen abnimmt. Das hilft, dass die Lunge sich nach der Geburt besser entfalten kann, wenn sie mit Luft gefüllt wird.
Um die Produktion rechtzeitig anzufachen, werden der Mutter 24 bis 48 Stunden vor der Geburt Cortisonspritzen (im Abstand von 25 Stunden) verabreicht. Bei allen Frauen, die gefährdet sind, eine Frühgeburt zu erleben, wird diese Spritze verwendet. Der positive Effekt – die kindliche Lunge entwickelt sich daraufhin so, als wäre sie bereits ein bis zwei Wochen älter – hält etwa zwei Wochen an und acht danach wieder ab. „Es macht die Lunge nicht reif, aber etwas reifer und kann bei Frühchen mit 23 oder 24 Wochen den entscheiden- den Unterschied machen“, so Klebermass-Schrehof.
In besonderen Härtefällen oder wenn es zu einer verfrühten Spontangeburt kommt, kann Surfactant über die Luftröhre auch direkt in die Lunge des Babys eingebracht werden. Am AKH Wien wird dieser Schritt bei allen Kindern unter 1000 Gramm (und unter 28 Schwangerschaftswochen) gesetzt.
Je weniger nach der Geburt beatmet wird und je eher die Kinder selbstständig zu atmen beginnen, desto weniger Schaden nimmt auch die Lunge. „Es wurde immer gesagt, die können das nicht“, erinnert sich Klebermass-Schrehof. „Aber man sieht, wenn man es ihnen zutraut und die Umgebung entsprechend gestaltet, dass sie das von alleine schaffen.“
Als wären sie noch im Bauch
Die Kunst besteht darin, das Milieu im Mutterleib nachzubilden und dadurch Frühgeborenen die bestmöglichen Voraussetzungen für die eigenständige Entwicklung zu bieten. Während es vor rund zehn Jahren noch gang und gäbe war, Frühchen bei grellem Licht einfach auf dem Rücken in den Brutkasten (Inkubator) zu legen, sieht die Medizin heute davon ab. Brutkästen, die konstant die nötige Temperatur und Luftfeuchtigkeit erzeugen, werden nunmehr völlig abgedunkelt, es werden Nester aus gewickelten Tüchern für die Babys gemacht, in denen sie eng eingepackt liegen, sämtliche Geräusche werden vermieden, nur die Stimme der Mutter brauchen die Kleinen. Ein tragende Säule im nunmehr gängigen Betreuungskonzept – der „entwicklungsfördernden Betreuung“ – sind die Eltern, die in der Frühchen-Station des AKH Wien jederzeit bei ihrem Kind bzw. ihren Kindern sein können. Die kleinen Patienten werden für eine Weile aus dem Brutkasten genommen und an Mutter und Vater übergeben, damit die Kinder auch den Herzschlag der Eltern spüren. Die selbstständige Atmung der Babys wird dadurch positiv beeinflusst, ebenso stabilisiert dieser Kontakt zu den Eltern den Kreislauf. „Ansonsten lässt man sie eher in Ruhe und stört sie nicht“, so Klebermass-Schrehof. In dieser Umgebung übernimmt der kleine Körper selbst die Reifung, während die Ärzte nur noch einschreiten, wenn dringende medizinische Eingriffe notwendig sind. Durch diese Philosophie der heutigen Neonatologie haben sich die Überlebensraten deutlich erhöht.
Therapeutisches Kuscheln
Auf die vorteilhafte Wirkung körperlicher Nähe gehen österreichweit immer mehr Spitäler mit neonatologischer Station ein und integrieren das Kuscheln mit den Eltern in die Versorgung der Frühchen. Zuletzt stellten Ende 2018 zwei Kliniken ihren Betrieb darauf ein. Die sogenannte Känguru-Methode, bei der Kinder Haut an Haut auf dem Oberkörper eines Erwachsenen liegen, wird sowohl an der neuen Frühgeburtenstation am LKH Villach als auch in der neuen Abteilung für Neonatologie des Wiener St. Josef-Krankenhauses gefördert. Frühchen, die mit der Känguru-Methode versorgt werden, haben Studien zufolge eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit und sind weniger anfällig für Infekte und Atemwegserkrankungen.
Frühchen bleiben meist bis zum eigentlichen (errechneten) Geburtstermin im Krankenhaus. Im Schnitt bedeutet das nach der Entbindung einen drei- bis viermonatigen Aufenthalt auf der Intensivstation. Während es früher darum ging, ein bestimmtes Gewicht zu erreichen, orientiert man sich heute an individuelleren Parametern: Wenn die Kinder ihre Körpertemperatur selbst halten können, sie selbstständig trinken, atmen und schlucken und sich die Eltern sicher genug fühlen, steht einer Entlassung nichts im Wege.
Dass manche Frühchen trotz bester Betreuung sterben, liegt nahezu immer an der Unreife aller Organsysteme, des Immunsystems, der Haut oder des Darms. Denn dann können Bakterien – die jeder Mensch natürlicherweise auf der Haut oder im Darm trägt – tödlich sein. Daneben treten manchmal Hirnblutungen auf, die zum Tod führen können.
Riskante Eizellspende im Ausland
In der vergangenen Dekade sah sich die Neonatologie aufgrund eines gesellschaftlichen Wandels und durch die neuen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin mit einem Anstieg von Frühgeburten konfrontiert. 2018 haben sich in Österreich mehr als 5000 Paare für eine In-vitro-Fertilisationen (IVF) entschieden – und damit doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Dass dadurch auch die Zahl der Frühgeburten gestiegen ist, hat zwei Gründe: Einerseits sind Frauen, die sich für eine künstliche Befruchtung entscheiden, tendenziell älter, wodurch die Gefahr für eine Unterversorgung des Kindes im Mutterleib steigt. Andererseits wurden bei In-vitro-Fertilisationen häufig mehrere Embryonen eingepflanzt, was die Zahl der Mehrlingsschwangerschaften erhöhte – und jedes Kind mehr im Mutterleib führt zu einer früheren Geburt. Schon bei Zwillingen kann sich die Schwangerschaftsdauer verkürzen – pro Kind um circa zwei Wochen, so eine Faustregel der Neonatologie. Somit sind Drillinge oder noch höhere Mehrlinge immer Frühgeburten, so Klebermass-Schrehof.
Durch Rücksprache mit den entsprechenden Stellen (Geburtshilfe, Reproduktionsmedizin, etc.) habe sich die Situation allerdings schon wieder etwas entschärft. Nunmehr rücke ein anderes Phänomen in den Fokus der Aufmerksamkeit: die Eizellspende im Ausland. Die gesetzlichen Bestimmungen in Österreich erlauben künstliche Befruchtung nur, wenn die potenzielle Mutter zu Beginn der IVF-Behandlung das 40. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Ältere Frauen würden deshalb immer häufiger Behandlungen in ausländischen Kliniken in Anspruch nehmen, an denen auch die Eizellspende rechtlich erlaubt ist. Diesen Trend spüren Katrin Klebermass-Schrehof und ihre Kollegen seit knapp zwei Jahren: „Wir sehen mehr Frühgeburten wegen dem höheren Alter der Mütter, die in Österreich keine Therapie mehr bekommen würden“, berichtet sie.
Ursachenforschung „in progress“
In rund der Hälfte der Fälle ist die genaue Ursache einer Frühgeburt unbekannt. Als Risikofaktoren wurden bislang Fehlbildungen der Gebärmutter, eine schlechte Versorgung der Plazenta, Bluthochdruck, Rauchen sowie Passivrauchen und Mangelentwicklungen des Fötus identifiziert. Auch das Alter der Mutter spielt eine Rolle, da die Gefahr für Frühgeburten steigt, wenn die Mütter sehr jung (unter 17 Jahren) oder bereits älter (über 35 Jahre) sind.
Dass neben körperlichen auch psychische Faktoren eine tragende Rolle spielen, erkannten Forscher unlängst in einer Studie, die einen Zusammenhang zwischen häuslicher Gewalt und Frühgeburten belegte.
Einer der Hauptgründe für Frühgeburten, der derzeit im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses steht, sind aufsteigende bakterielle Infektionen aus der Scheide bzw. dem Darm. Ausgelöst von Bakterien, die sich natürlicherweise in der Scheiden- bzw. Darmflora finden, steht die Medizin hier noch vor einem Rätsel. „Die Gründe werden intensiv beforscht, aber wir sind noch nicht soweit, diese Infekte komplett zu verhindern, auch wenn Vorsorgeprogramme in der Schwangerschaft hier gute Erfolge bringen“, erläutert Klebermass-Schrehof. Die Neonatologie ist ein enorm dynamisches Feld und Forschung deshalb enorm wichtig.
Am AKH Wien wird in der Nachsorgeambulanz die Entwicklung der Frühchen bis zum Schulalter verfolgt. Aus diesen Daten lässt sich ableiten, wie sich die Kinder entwickeln und welche Faktoren dabei hilfreich oder hemmend sein können. Um speziellere Strategien für die Versorgung von Frühgeborenen zu erarbeiten, wäre eine zentrale Datenbank, in der alle Daten von Frühgeburten aus Österreich eingespeist und ausgetauscht werden können, sehr hilfreich. Derzeit erfasst die Statistik Austria zwar die Zahl und das Geburtsgewicht jedes Frühchens und ob dieses überlebt hat oder nicht – um daraus neue Ansätze abzuleiten, sei das Register aber zu ungenau, so Klebermass-Schrehof. „Wir arbeiten in einem Bereich, der von Datenvergleichen extrem profitieren würde.“
Erschienen im Universum Magazin, März 2019
