Projekt Beschreibung

Im Notfall retten Blutkonserven Leben, doch die Spenderzahlen sinken. Die Medizin begegnet diesem Problem mit einem immer klügeren Umgang mit dem raren Gut. Mit neuen Analysen und Methoden der Blutstillung erregen österreichische Forscher international Aufsehen. Gleichzeitig wird weltweit fieberhaft an Kunstblut geforscht, denn Transfusionen sind keineswegs frei von Risiken.
Es ist nicht kühl und auch nicht besonders dunkel, doch wer nicht aufpasst, kann leicht über eine der am Boden gestapelten Transportboxen stolpern. In zwei doppeltürigen Kühlkästen lagern Dutzende Behälter mit dunkelroter Flüssigkeit und großen Buchstaben auf den Etiketten: A+, B oder 0 ist prominent aufgedruckt. Im Nebenraum baumeln zwei Blutkonserven an einem Metallgestell. In Schläuchen fließt das Blut durch einen speziellen Filter und dann wieder in einen der typischen Infusionsbeutel. Es ist die Inline-Filtration, die hier im Blutdepot eines Krankenhauses am Stadtrand von Wien vor sich geht. Dabei werden die weißen Blutkörperchen und die Blutplättchen, zusammen der „buffy coat“ genannt, ausgesiebt. Insbesondere auf den weißen Blutkörperchen – den für die Immunabwehr wichtigen Leukozyten – können Viren und andere Krankheitserreger sitzen. Den späteren Empfängern könnten diese extrem gefährlich werden. Nach dem Säubern bleiben das flüssige Blutplasma und die roten Blutkörperchen übrig, in einer Zentrifuge werden auch sie voneinander getrennt.
Alle 90 Sekunden
Was im beschriebenen Filterprozess letztlich übrig bleibt, sind die konzentrierten roten Blutkörperchen. Sie werden in rund 300 Milliliter fassenden Beuteln als tiefrotes Erythrozyten-Konzentrat bei gut vier Grad gelagert – maximal jedoch 42 Tage, dann haben sie ihre Haltbarkeitsfrist erreicht und müssen entsorgt werden. Seit Langem werden in der Medizin statt Vollblut nur noch die einzelnen Blutkomponenten nach Bedarf verwendet.
Im Schnitt wird in Österreich ungefähr alle 90 Sekunden eine dieser Blutkonserven benötigt. Bei Unfällen mit Schwerverletzten, Operationen oder auch Geburten ist Blut eines der unverzichtbarsten Medikamente – das Gesetz stuft es als Arzneimittel ein.
Fließt das Blut nicht in Filterschläuchen, sondern durch das 96.000 Kilometer lange Netz aus großen Schlagadern und feinsten Gefäßen, erfüllt es eine Vielzahl von Aufgaben. Abhängig von Körpergewicht und Geschlecht zirkulieren zwischen fünf und sechs Liter Blut im Körper, verteilen Nährstoffe aus dem Darm, Sauerstoff aus der Lunge und transportieren Abfallstoffe ab. Auch die chemischen Kuriere des Körpers, die Hormone, gelangen über das Blut an ihre Bestimmungsorte, und nicht zuletzt hält der Blutkreislauf auch die Körpertemperatur konstant. Pro Jahr brauchen Krankenhäuser hierzulande zwischen 350.000 und 470.000 Blutkonserven, rechnet das Rote Kreuz vor.
Verhängnisvoller Schutz
Schwerverletzte haben meist viel Blut verloren, wenn sie mit Rettungswagen oder Hubschrauber ins Spital kommen. Ein Viertel von ihnen weist bei der Aufnahme in den Schockraum – das technisch aufgerüstete Herz jeder Unfall-Station – bereits eine Blutgerinnungsstörung auf. Je mehr Blut ein Patient verloren hat, desto deutlicher zeigen sich die Symptome dessen, was Mediziner „Koagulopathie“ oder Blutungsschock nennen. Darunter verstehen sie einen Schock zustand, der durch starken Blutverlust ausgelöst wird.
Patienten, die diesen Schockzustand erleiden, zeigen eine vierfach höhere Sterblichkeit, eine höhere Rate an Massivtransfusionen und einen längeren Intensiv-Aufenthalt, wie Forschungen des Ludwig Boltzmann Instituts für Traumatologie (LBI Trauma) belegen.
Das Problem ist, vereinfacht ausgedrückt, folgendes: Durch den Blutverlust zirkuliert weniger der lebenswichtigen Flüssigkeit im Körper, folglich gelangt eine geringere Menge Blut zurück zum Herzen. Viele körpereigene Sensoren schlagen Alarm, da – scheinbar – irgendwo ein Gefäß verstopft ist, das den normalen Blutfluss behindert. Als Notfallprogramm werden Stoffe ausgeschüttet, die das Blut verdünnen, um die Blockade aufzulösen oder zu umfließen. Die Konsequenz aus dieser Störung der Blutgerinnung ist, dass Verletzte noch schneller verbluten. „Es ist ein an sich kluger Schutzmechanismus des Körpers, der dem Menschen in Ausnahmesituationen wie schweren Autounfällen aber zum Verhängnis werden kann“, erklärt Johannes Zipperle vom LBI Trauma. Ein Verlust von etwa 40 Prozent der körpereigenen Blutmenge endet meist tödlich. Deshalb gilt es, die Blutung so schnell wie möglich zu stillen.
Vlies und Gelatine
Abgestimmt auf die Ursache der Blutung und die fehlenden Bestandteile im Blut von Schwerverletzten stehen Ärzten mehrere lokal oder systemisch wirkende Methoden der Blutstillung zur Verfügung. Zur lokalen Behandlung gibt es heute auf Vlies basierende Produkte, die etwa aus Kollagen oder oxidierter Zellulose bestehen. Eine langjährige Erfolgsgeschichte schreibt in diesem Bereich das Hämostasevlies „Haemopatch“. Dieses spezielle Pflaster wird in Österreich für die ganze Welt produziert und wurde vom LBI Trauma mitentwickelt.
In den Forschungslabors wird auch eine andere Option der Blutstillung konstant verbessert: Es handelt sich dabei um Partikel wie Gelatine, die mit einer Trägerflüssigkeit – etwa Thrombinlösung – kombiniert werden. Dieses Gemisch wird im Bereich einer Verletzung injiziert. „Wo eine aktive Blutung stattfindet, wird das Material fest und induziert lokal die Blutgerinnung“, erläutert Paul Slezak, Experte für Blutgerinnung am LBI Trauma. Moderne blutstillende (hämostatische) Produkte ermöglichen eine rasche Kontrolle der Blutung und sind in der Lage, selbst größere Verletzungen, etwa Stich- oder Schusswunden, in kürzester Zeit zu verschließen.
Personalisierte Blutkonserve
Mit jedem Tropfen Blut gehen auch Gerinnungsfaktoren verloren, die für den Stopp einer Blutung oder den Wundverschluss zuständig sind. Um eine Blutung effektiv zu stoppen, müssen die fehlenden Komponenten im richtigen Maße ersetzt werden. Dazu vertrauen die Ärzte im Lorenz Böhler Unfallkrankenhaus auf das sogenannte ROTEM-Verfahren. Das Gerät, das einem sperrigen Computer aus den 1960er-Jahren ähnelt, zeigt in – für Experten schlüssigen – Grafiken die Stärke des Blutverlustes und das Fehlen einzelner Blutbestandteile. Da diese Messungen direkt neben dem Verletzten stattfinden, können Ärzte die Behandlung nahezu in Echtzeit anpassen. In die internationale Fachliteratur hat dieser personalisierte Ansatz als „Austrian Way“ Einzug gehalten. Am LBI Trauma ist die Rede von „Theragnostic“, also der Kombination von Therapie und Diagnose, die im Idealfall nahezu zeitgleich stattfindet.
Wie individuell auch das Risiko des Verblutens ist, darauf stießen unlängst japanische Forscher. Im Mai veröffentlichten sie eine Studie, der zufolge ausgerechnet die Universalspender der Blutgruppe 0 das höchste Sterberisiko nach schweren Verletzungen haben. Wie die Ergebnisse aus dem Tokyo Medical and Dental University Hospital zeigten, verbluten Schwerverletzte mit Blutgruppe 0 doppelt so häufig wie Betroffene mit einer anderen Blutgruppe. Als Ursache vermuten die Forscher die um ein Viertel bis ein Drittel geringere Konzentration eines Blutproteins, des Von-Willebrand-Faktors, im Blut der Blutgruppe 0. Der Faktor trägt zur Blutstillung bei und ist indirekt auch an der Blutgerinnung beteiligt. Nun hoffen die Forscher, durch das neue Wissen eine besser abgestimmte Versorgung für Patienten entwickeln zu können.
Österreichs Blut-Pionier
Den Grundstein für die Erfolgsgeschichte der Transfusionsmedizin legte im Jahr 1900 der österreichische Bakteriologe Karl Landsteiner mit der Entdeckung und Publikation des AB0-Blutgruppensystems. Zu welcher der vier Blutgruppen – 0, A, B oder AB – ein Mensch gehört, wird von biochemischen Merkmalen auf der Zelloberfläche der roten Blutkörperchen bestimmt. Bei jedem Menschen wird die Blutgruppe von den Eltern vererbt. Hierzulande ist die Blutgruppe A mit 41 Prozent die häufigste und AB mit sieben Prozent die seltenste.
Für die Entdeckung der Blutgruppen erhielt Landsteiner 1930 den Nobelpreis für Medizin, zehn Jahre danach entdeckten er und der Serologe Alexander Wiener die für die Transfusionen ebenfalls zentralen Rhesusgruppen. Der Rhesusfaktor bezieht sich auf bestimmte Antigene auf den Erythrozyten. Ist das sogenannte D-Merkmal auf den roten Blutkörperchen vorhanden, gilt man – wie 81 Prozent der Österreicher – als Rhesus-positiv. Fehlt das D-Merkmal, ist man Rhesus-negativ, wie 19 Prozent der österreichischen Bevölkerung. Für die Auswahl des passenden Spenderblutes sind beide Einteilungen nach wie vor essenziell.
Sinkendes Angebot, gleiche Nachfrage
Trotz aller Stolpersteine leistet das dunkelrote Erythrozyten-Konzentrat bei Patienten mit großem Blutverlust unverzichtbare und lebensrettende Dienste. Doch die wertvolle Ressource wird immer knapper, obgleich der Einsatz von Blutkonserven in den letzten 20 Jahren hauptsächlich aufgrund verbesserter und minimal-invasiver Operationsmethoden um rund 40 Prozent gesunken ist. Nichtsdestotrotz sieht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Versorgungsproblem auf unsere (immer älter werdende) Gesellschaft zukommen, das auch Experten wie Johannes Zipperle nicht verborgen bleibt: „Die Generation der regelmäßigen Spender stirbt weg oder kommt in ein Alter, in dem sie nicht mehr spenden darf“, erklärt er. Gleichzeitig gibt es immer mehr betagte Unfallpatienten, die bei Operationen nach Knochenbrüchen ebenfalls auf Spenderblut angewiesen sein können. Und auch die Zahl schwerer Sport- und Freizeitunfälle stagniert laut Kuratorium für Verkehrssicherheit (KfV) seit Jahren auf hohem Niveau. Dem stehen vier Prozent der Österreicher gegenüber, die (regelmäßig) Blut spenden.
Risikofaktor Spenderblut
Im Fall eines akuten Blutverlustes helfen den Betroffenen vor allem die roten Hämoglobin- und Sauerstofftransporter, wie Studien untermauern. Obwohl Spenderblut sehr streng kontrolliert wird und als extrem sicheres Arzneimittel gilt, birgt jede Transfusion dennoch Gefahren. „Man kann es mit einer Organtransplantation vergleichen, denn genau wie Niere, Leber oder Herz ist Blut ein Organ – wenn auch ein flüssiges“, erklärt Peter Perger, leitender Oberarzt der Blutbank im Krankenhaus Hietzing.
Mittlerweile äußern Mediziner und Forscher weltweit Bedenken, wenn es um das Thema Blutspende geht: Fremdes Blut zu erhalten, gehe mit ähnlichen Risiken einher wie die Transplantation eines fremden Organs, so die Quintessenz der Warnungen. Gegen falsch gewähltes Fremdblut wehrt sich der Körper mit Immunreaktionen, die bis zum Tod führen können. Vereinzelte Meta-Analysen legen zudem nahe, dass sich Empfänger von Spenderblut nach Operationen deutlich öfter mit Krankenhauskeimen infizieren und häufiger Schlaganfälle, Herzinfarkte oder Nierenversagen erleiden.
Kunstblut statt Nebenwirkungen
Auf Hochtouren wird deshalb rund um den Globus an der Verwirklichung eines medizinischen Traums gefeilt: der Herstellung von Kunstblut. Der größte Hoffnungsträger ist derzeit kurioserweise ein fingerdicker Watt-Wurm. Eher zufällig fiel dem französischen Meeresbiologen Franck Zal der außergewöhnliche Sauerstofftransport im Körper von Arenicola marina auf. Das sauerstoffbindende Hämoglobin zirkuliert bei dem Tierchen frei im Organismus und ist 50-mal größer als beim Menschen. Rote Blutkörperchen wären nach diesem Vorbild obsolet. Im menschlichen Körper sind sie aber notwendig, da unsere Hämoglobin-Moleküle so winzig sind, dass sie (frei fließend) Gefäße und Gewebe verstopfen würden.
Das speziell verarbeitete und pulverisierte Wurm-Hämoglobin könnte künftig die Aufgaben des Erythrozyten-Konzentrats übernehmen, hofft Zal. Erste klinische Studien sollen schon 2019 starten. Läuft alles wie gewünscht, könnte die Transfusionsmedizin eine Revolution erleben: Das Wurm-Pulver kann über zwei Jahre hinweg gelagert werden und wird im Bedarfsfall schlicht mit Wasser angemischt und verabreicht.
Erschienen im Universum Magazin, September 2018
