Projekt Beschreibung

Es ist eine ungewöhnliche Berufung, der eine junge Veterinärin im ländlichen Idyll Niederösterreichs nachgeht: Sie arbeitet als Fischtierärztin. Ihre Hauptkunden sind die prestigeträchtigen japanischen Koi-Karpfen. Wenn sie Flossen näht oder Schuppen zieht, hält Melanie Ehrenfried meist mehrere tausend Euro Fisch in Händen.
Der Erstkontakt mit ihren schwimmenden Patienten war unfreiwillig innig, grinst Melanie Ehrenfried. „Da bin ich beim Teich gestanden, habe mir schon gedacht, dass das Moos am Ufer rutschig aussieht und ich aufpassen muss, aber irgendwie habe ich mich doch zu weit nach vorne gelehnt“, erinnert sich die Fischtierärztin. In der nächsten Sekunde lag sie schon im Wasser. Neben ihrem Arztkoffer und dem Mikroskop hat sie seither bei Kundenterminen auch immer Kleidung zum Wechseln dabei.
Dass ihre Berufswahl ungewöhnlich ist, bemerkte die Veterinärin auch an den Reaktionen aus ihrem Umfeld. „Meine Eltern meinten, ich solle doch etwas Handfestes machen“, lacht Ehrenfried. „Die haben an Kleintiere gedacht“, erklärt die junge Fischtierärztin grinsend. Doch schon während des Studiums der Veterinärmedizin an der Justus-Liebig-Universität in Gießen merkte sie, dass die lieben pelzigen Streicheltiere nicht so ihr Ding sind. Sie habe sich schon immer mehr für Reptilien und Fische interessiert – war dann aber doch überrascht, als sie erfuhr, dass der Beruf der Fischtierärztin tatsächlich existiert.
Eine weitere Überraschung war, dass auch Fische zu Streicheltieren avancieren können. Zumindest wenn es sich dabei um die bis zu einem Meter langen und bis zu 24 Kilo schweren japanischen Koi-Karpfen handelt, auf die sich Ehrenfried inzwischen spezialisiert hat. „Die kommen tatsächlich an die Hand und wirken dadurch richtig zutraulich“, so die Koi-Expertin. In vorangegangenen Praktika und Jobs hatte sie die Möglichkeit, sowohl die Tiere und ihre Anatomie als auch ihr Verhalten genau kennenzulernen. Auf eine Anstellung bei einer deutschen Fischtierärztin folgten Reisen nach Japan und die Arbeit bei einem großen Koi-Händler in Deutschland.
Liebe und 400 Koi-Karpfen
Weshalb es Melanie Ehrenfried nach Österreich verschlagen hat? Sie muss schmunzeln: „Der Liebe wegen“, sagt sie mit Blick auf ihren Lebensgefährten Mario, der sich auf den Import der Zierkarpfen spezialisiert hat. Vor Jahren kaufte Mario einen Koi bei Melanies ehemaligem Arbeitgeber. Dieser Fisch entpuppte sich als Sorgenkind, vermehrt traten Probleme mit den Augen auf, und ebenso vermehrt musste Ehrenfried den Patienten behandeln – der Rest ist (Liebes-)Geschichte.
Heute packt die Fischtierärztin auch im Koi-Handel ihres Lebensgefährten Mario mit an, der im niederösterreichischen Gloggnitz auf 250 Quadratmetern die exotischen Fische aufzieht. In hohen aneinandergereihten Becken, zwei ausladenden runden Becken und einem Innenteich (mit Tunnel zum Äquivalent im Freien) tummeln sich gut 400 Koi (der Plural von Koi ist Koi) aller Größen und Farben.
Bei den schwimmenden Statussymbolen, die in ihrer japanischen Heimat bis dato Stärke und Wohlstand repräsentieren, steht das Aussehen an oberster Stelle. In der Regel sind Koi weiß, orange, gelb, bläulich-grau, grau-schwarz oder tiefschwarz gefärbt, wobei die Farben in verschiedenen Mustern und Kombinationen vorkommen. Durch Kreuzungen und weitere Züchtungen wächst die Bandbreite der Arten stetig an. Unterschieden werden diese einerseits anhand der Färbung, andererseits spielen auch die Ausprägungen der Flossen und Schuppen eine Rolle.
Wenig verwunderlich stehen in Japan weiße Exemplare mit rotem Kreis auf der Stirn – als tierische Abbilder der japanischen Flagge – ganz oben auf der Beliebtheitsskala. Generell liegt das Hauptaugenmerk auf der Größe sowie den Farben und dem Muster der Tiere. Wenn ein Koi schnell wächst, steckt der Organismus die körpereigenen Energiereserven ins Wachstum statt in die Entwicklung der typischen Farben. Und selbst bei ausgewachsenen Exemplaren kann sich die Färbung des Schuppenkleides verändern. Um gewisse Farben zu fördern, gibt es spezielles Futter, mit dem der Pigmentierung der Schuppen auf die Sprünge geholfen werden kann. Den einzigen Auftrag, den Ehrenfried bisher ablehnte, betraf ebenfalls das Aussehen eines Koi. „Das war ein Kunde in Deutschland, der seinen Koi einschläfern wollte, weil er ihm nicht mehr gefallen hat“, sagt sie verständnislos. Bei entsprechender Optik und Größe greifen Koi-Freunde jedoch schon mal tief in die Geldbörse. Das bislang teuerste Exemplar verkaufte Mario für 23.000 Euro, der weltweite Rekordpreis für einen Koi betrug zwei Millionen US-Dollar.
Frühjahrs-Aufputz
Ein Teich mit Koi-Karpfen kann angesichts der Kaufpreise schon als Wertanlage gelten – und diese muss gut umsorgt werden, insbesondere im Frühjahr. Nach dem Winter, den die Fische in abgedeckten Teichen verbracht haben, müssen die Wasserqualität und der gesundheitliche Zustand der Tiere wieder auf Vordermann gebracht werden.
Um die massigen Tiere zu untersuchen, isolieren Fischtierärztin und Fischbesitzer den jeweiligen Patienten und verfrachten ihn in einen weiten Bottich. Routiniert kippt Ehrenfried eine Dosis Sedativum ins Wasser des Untersuchungsbeckens, um den zu behandelnden Koi ruhigzustellen und ihm dadurch Stress zu ersparen.
Dann beginnt die Arbeit, wie sie nun auch im Garten von Herrn Kurt vonstattengeht. Der Pensionist zählt mittlerweile zu Ehrenfrieds Stammkunden und bekommt regelmäßig Besuch von der Veterinärin. 43 Koi-Karpfen schwimmen in dem Teich, den der Fischfreund eigenhändig ausgehoben hat. Seit dem Überwintern laborieren einige seiner schuppigen Haustiere an einer bakteriellen Infektion. „Das ist leider üblich“, weiß die Veterinärmedizinerin. Bei kalten Temperaturen im Winter sinken die Abwehrkräfte der Zierkarpfen, was sie besonders anfällig für Infektionen und Krankheiten macht. Die Immunabwehr kommt erst bei einer Wassertemperatur von 15 Grad in die Gänge. Dann können auch Medikamente verabreicht werden, die den Organismus der wechselwarmen Tiere ansonsten zu stark belasten würden.
Proben nehmen und Schuppen ziehen
Im Frühjahr besteht die Hauptaufgabe von Ehrenfried darin, Schäden auszubessern, die während der kalten Jahreszeit aufgetreten sind. So wie bei Willi, dem goldgelben Koi, der nun lethargisch in seinem Untersuchungsbecken dümpelt. Der schwarze Arztkoffer wird aufgeklappt, ein Sammelsurium aus Spritzen, Probenplättchen, Phiolen und Fläschchen kommt zum Vorschein. Behutsam umfasst die Tierärztin den Koi und dreht ihn zu sich. Zwischen den goldgelben Schuppen zeigt sich eine Wunde, an deren Rändern die Schuppen schwarz verfärbt sind. „Das sind Bakterien, bei denen ich verhindern muss, dass sie sich weiter ausbreiten“, sagt Ehrenfried konzentriert. Mit einem langen Wattestäbchen nimmt sie einen Abstrich und verschließt die Probe fürs Labor. „Die Untersuchung zeigt uns dann genau, mit welchen Bakterien wir es zu tun haben“, so Ehrenfried. Für „kleine“ Analysetätigkeiten hat sie stets ein Mikroskop dabei – mit einem Mikroskop-Plättchen streicht sie über die Schuppen und untersucht die Probe. „Da haben wir normale Hautzellen und einen Wurm“, erklärt sie. Alles in allem eine unauffällige Diagnose.
Doch nun geht es an die Wundversorgung: Ehrenfried sprüht zuerst Desinfektionsspray auf die offene Stelle im Schuppenkleid. Aus einem Metalletui nimmt die Tierärztin eine kleine Zange, setzt behutsam an den verfärbten Stellen an und zieht gut zehn der Ein-Euro-großen Schuppen.
Zugegeben, es sieht nicht schön aus, wenn die Veterinärin die offenen Wunden inspiziert und behandelt. Ob die Fische keine Schmerzen hätten? Diese Frage ist in der Veterinärmedizin und in der Forschung noch sehr umstritten und nicht abschließend geklärt. „Sie fühlen es bestimmt, aber es schmerzt sie nicht so, wie wir uns das vorstellen“, erklärt Ehrenfried dazu. Um möglichen Schmerzen vorzubeugen, werden die Fische von ihr stets leicht sediert.
Behandlung unter der Oberfläche
Nur selten kommt es vor, dass einer der kostbaren Fische für eine Operation länger aus dem Wasser muss. „Abgesehen von Bauchhöhlen-Operationen, bei denen ich etwa Tumore entferne, führe ich alle Behandlungen im Wasser durch“, erklärt Ehrenfried, die von solchen chirurgischen Eingriffen jedoch nicht sehr überzeugt ist. Erfahrungsgemäß kämen Tumore immer wieder, in vielen Fällen würde man durch die Behandlung nur das Tierleid verlängern. Und auch am OP-Tisch selbst können Unfälle passieren. „Die Tiere sind zwar leicht sediert, aber trotzdem groß und schwer. Wenn die plötzlich mit der Flosse schlagen, können sie sich auch schlimmeren Schaden zufügen.“
Vielfach wird Ehrenfried zu Hilfe gerufen, wenn sich ein Fisch stark an einem Stein im Teich gestoßen hat. Daraus resultieren Verletzungen wie aufgerissene oder gebrochene Flossen, häufiger jedoch kaputte Schuppen, die sich mit der Zeit dunkel verfärben. Und gerade bei den japanischen Statussymbolen zählt die Optik in höchstem Maße. Behutsam entfernt Ehrenfried deshalb die betroffenen Schuppen, die – solange die sogenannte Schuppentasche nicht beschädigt ist – nach einer Weile wieder nachwachsen.
Charaktere im Gartenteich
Auch bei dem goldgelben Koi Willi wird das Schuppenkleid heilen. Ehrenfried bedeckt die behandelte Stelle mit tiefblauem Wundpulver, und Willi darf wieder zurück in den Teich. Neugierig schwimmen die anderen Fische heran und stupsen den noch trägen Patienten sanft an. „Koi sind Gruppentiere und haben ein ausgeprägtes Sozialgefüge, wie man hier schön erkennen kann“, so Ehrenfried. Die anderen wollen kontrollieren, was mit ihrem sedierten Kollegen los sei. Generell gehören Karpfen zu den geselligen Fischen, und so ergeben sich im Koi-Teich wahre Freundschaften, manche Fische sind immerzu im Duo unterwegs. „Sie kommunizieren außerdem untereinander und lernen durch Beobachtung, etwa an die Hand zu kommen“, weiß die Veterinärin. Daran sieht man auch, dass mit Hund und Katze nicht nur die beliebtesten Haustiere der Österreicher ausgeprägte und sehr eigene Charaktere besitzen. Auch unter Koi-Karpfen gibt es verschiedene Persönlichkeiten, amüsieren sich Mario und Melanie. „Es gibt dermaßen verfressene Exemplare und auch solche, die ein bisschen dumm sind“, lachen die beiden. „Die kommen an die Hand, lassen sich aus dem Wasser fischen, was ja eigentlich stressbesetzt ist, werden zurück in den Teich gegeben und kommen nach wenigen Sekunden schon wieder zu einem zurück“, sagt Mario kopfschüttelnd.
Schwimmende Ruhepole
Einige ihrer Kundinnen und Kunden haben all ihren Koi Namen gegeben, kennen die Eigenheiten und Vorlieben ihrer Lieblinge in- und auswendig. „Das ist schon ein komischer Haufen“, sagt Melanie Ehrenfried lachend. Doch die beruhigende Wirkung, die Koi-Fans an den Fischen so schätzen, kann die Tierärztin durchaus nachvollziehen. Das beste Beispiel dafür lieferte ihre fünf Monate alte Tochter. „Letzte Woche war die Kleine einmal so aufgeregt und wollte sich nicht beruhigen. Dann bin ich mit ihr zum Teich gegangen, um die Fische zu beobachten, und sie hat sich innerhalb kürzester Zeit wieder völlig entspannt“, sagt die Neo-Mama lächelnd.
Diesen Entspannungseffekt üben die Koi-Karpfen scheinbar auf all ihre Beobachter aus. Das bestätigt zumindest der Koi-Freund Herr Kurt, gefragt nach den Motiven für das Investment in die schwimmenden Haustiere. Klar, mit einem Hund kann man spazieren gehen, ihm Apportieren beibringen, eine Katze kann man auf den Schoß nehmen und das Schnurren genießen, aber Fische? „Wenn ich früher gestresst aus der Arbeit gekommen bin, hab ich mir einen Sessel geschnappt, den Fischen zwei Minuten zugesehen, wie sie ruhig durchs Wasser gleiten, und war im Handumdrehen selber wieder entspannt“, erklärt er die Vorteile des Koi-Besitzes.
In ihrem gesunden Element
In Österreich sei die Gemeinde der Koi-Fans noch etwas kleiner als in Deutschland, wo Ehrenfried pro Tag bis zu zehn Kunden besuchte. In ihrer niederösterreichischen Wahlheimat und den umliegenden Regionen vereinbart sie täglich bis zu vier Termine. So ist auch die Zahl der auf Fische spezialisierten Fachtierärzte noch recht überschaubar, bei der Österreichischen Tierärztekammer sind aktuell gerade einmal 15 einschlägige Spezialistinnen und Spezialisten registriert.
Oft müsse man weniger die Fische versorgen, als vielmehr lediglich das Wasser aufbessern, so Ehrenfried. „Parasiten, Viren und Bakterien kann man vorbeugen, indem man die Umwelt der Tiere gesund hält.“ Ob ihr dabei in letzter Zeit auch veränderte Umweltbedingungen – etwa durch neue Krankheiten oder Probleme bei der Wasserqualität – aufgefallen sind? Eine Veränderung beobachte sie in jüngster Vergangenheit gehäuft: In vielen Teichen sei die Konzentration von Antibiotika zu hoch. „Die Fische bekommen dadurch die gleichen Schwierigkeiten, die sich auch bei uns Menschen ergeben. Es entwickeln sich Resistenzen, und wenn man das Medikament wirklich braucht, schlägt es nicht mehr an.“ Eine Erklärung dafür sei, dass einige Koi-Besitzer ihren Tieren auf eigene Faust Medikamente verabreichen – dabei aber häufig einem folgenschweren Irrtum aufsitzen. „Wenn sich ein Fisch an einer Schuppe verletzt und diese absteht, kann es sein, dass andere Fische daran knabbern und die Schuppe letztlich abfällt“, erklärt Ehrenfried. Laien denken hier schnell an einen Bakterienbefall. „In Wahrheit ist es ein mechanischer Schaden, und trotzdem greifen manche Menschen zum Antibiotikum.“ Das belaste allerdings das Gleichgewicht im Teich und setze auch die anderen Fische den starken Medikamenten aus. „Beobachten, um Probleme zu erkennen“, lautet deshalb die Devise der Veterinärin.
Ab und zu wird die Fischtierärztin auch zu anderen Exoten gerufen, unlängst hat sie etwa zwei Axolotl behandelt, deren Kiemen von Bakterien befallen waren. Eine spannende Abwechslung neben den Zierkarpfen, schließlich interessiere sie sich auch für alle Arten von Amphibien. „Für mich ist das aufregender und reizvoller, als die Arbeit mit pelzigen Kleintieren“, sagt Ehrenfried.
Zur Koi-Ernte nach Japan
Um fachlich auf dem neuesten Stand zu bleiben, absolviert Melanie Ehrenfried nicht nur Kurse und Fortbildungen. Regelmäßig begleitet sie auch ihren Lebenspartner Mario nach Japan, wo im Oktober die Koi-Saison ihren Auftakt hat. Dann beginnt die sogenannte „Koi-Ernte“ – die eigentliche Einkaufssaison für die Zierkarpfen, zu der sich internationale Züchter und Verkäufer in japanischen Zucht- Hot-Spots wie Niigata einfinden. Dort walten die besten Züchter der Welt in einer Sparte, die in Japan nach wie vor immenses Ansehen genießt.
In diesem Mikrokosmos der Koi hält sich Mario eine Woche mit einem Guide auf, um von Fischfarm zu Fischfarm zu fahren und die besten Exemplare zu erstehen. Oft begleiten ihn seine Kunden auf diese Reise und wählen vor Ort die Fische, die kurz darauf nach Österreich geflogen werden. Koi reisen – sicher in Kisten mit ausreichend Wasser und Sauerstoff verpackt – im Laderaum von Passagiermaschinen nach Frankfurt. Aus der dortigen „Animal Lounge“ holt Mario die wertvolle Fracht dann mit dem Auto. Eines gilt es beim Transport besonders zu beachten: „Die Schachteln müssen immer quer zur Fahrtrichtung stehen“, sagt der Koi-Händler mit Nachdruck. Ansonsten könne eine Vollbremsung dazu führen, dass sich die Fische dabei die Flosse brechen. Das könne man im Normalfall zwar nähen, fügt Ehrenfried hinzu, aber Vorsicht sei eben die Mutter der Fisch-Kiste.
Erschienen im Universum Magazin, Juni 2019
