Projekt Beschreibung

Das verletzte Rückenmark des Menschen stellt eine der facettenreichsten Probleme der medizinischen Forschung dar. Kreative Ansätze sind gefragt, um die vielfältigen neurologischen Schäden zu regenerieren. Hoffnung auf wiedergewonnene Motorik und Sensorik geben selbstheilende Zebrafische und sterbende Blutkörperchen.
Der muntere Zebrabärbling ist recht pflegeleicht und anpassungsfähig und deshalb auch für Aquarien-Anfänger geeignet. So lautet eine gängige Beschreibung des kleinen gestreiften Zierfisches, der in Tierhandlungen für knapp zwei Euro den Besitzer wechselt. Es scheint, als wäre der Karpfen-Verwandte kein besonders spektakuläres Tier – doch weit gefehlt: Die auch als Zebrafisch bekannten Winzlinge vollbringen Unfassbares: Selbst von der kompletten Durchtrennung ihres Rückenmarks erholen sie sich vollständig. Wird der Hauptnervenstrang verletzt, leiden die Fische zunächst an Lähmungserscheinungen. Nach rund zwei Monaten hat sich das Nervengewebe jedoch neu verbunden und die motorischen Einschränkungen verschwinden. Beim Menschen entsteht in solchen Fällen Narbengewebe, das eine Barriere für erneutes Nervenwachstum bildet.
Forscher der Duke University in Durham wollten wissen, ob die Regeneration von Zebrafischen auch Potenzial für die Humanmedizin bereithält. Um die erstaunliche Fähigkeit der Tiere nachbilden zu können, wurde der Heilungsprozess zuerst penibel durchleuchtet. Bei Versuchstieren wurde das Rückenmark durchtrennt, dann wurde aufgezeichnet, welche Substanzen während ihres erstaunlichen Heilungsverlaufs aktiv waren.
Aufmerksamkeit erregte vor allem der plötzlich verstärkt auftretende Wachstumsfaktor CTGF – ein Protein (Eiweißstoff), der die Gewebsneubildung anregt. Nach wenigen Tagen hatten sich die Fische erholt, alle neurologischen und motorischen Fähigkeiten waren zurück. Erhielten die Tiere eine zusätzliche Dosis CTGF, heilte ihre Verletzung schneller. Wurde das Gen für den Wachstumsfaktor hingegen aus dem Erbgut gelöscht, regenerierte sich das Rückenmark nicht.
Ein analoges Protein, das dem CTGF des Zebrafischs zu 90 Prozent gleicht, besitzt auch der Mensch. Dieses Äquivalent verabreichten die Forscher jenen genetisch modifizierten Fischen ohne eigenes CTGF – und zwei Wochen später schwammen die Tiere wieder munter durch das Aquarium. Der nächste Schritt soll eine Studie an Mäusen sein, die Einblicke in die Verarbeitungsmechanismen von CTGF bei Wirbeltieren bringen soll.
Medizinischer Notfall
In Österreich werden jedes Jahr rund 400 Fälle von Querschnittlähmung diagnostiziert, weltweit erleidet alle vier Sekunden ein Mensch eine Rückenmarksverletzung. Die darauffolgenden Lähmungserscheinungen sind bis heute nicht umkehrbar – Forscher unterschiedlicher Disziplinen suchen allerdings fieberhaft nach neuen Methoden, die der Regeneration beschädigter Nerven dienen. Hierzulande rühren Querschnittlähmungen in 80 Prozent der Fälle von einem Verkehrs- oder Sportunfall oder einem Sturz. Solche Traumata lassen im hocheffizienten Nervengeflecht des Rückenmarks sofort Unmengen verletzter Nervenzellen absterben. Innerhalb der folgenden Stunden (bis hin zu einer Woche) kann sich das betroffene Areal aufgrund der sogenannten „neurotoxischen Reaktion“ noch verdoppeln: Absterbende Nervenzellen schütten einen Botenstoff aus, der auch umliegende, noch intakte Neuronen absterben lässt. Um einen weiteren Verlust von Gewebe durch Entzündungsreaktionen zu verhindern, kann etwa das entzündungshemmende Kortikosteroid Methylprednisolon verabreicht werden. Wenn dieses während der ersten acht Stunden nach der Verletzung in hohen Dosen gegeben wird, kann sich bei Patienten eine leichte funktionelle Erholung einstellen.
In China heilt man Hunde
In den Wochen nach einem Unfall bildet sich in der geschädigten Region Narbengewebe. Was bei einem aufgeschlagenen Knie sinnvoll und für die Heilung nötig ist, führt im zentralen Nervensystem hingegen zu gravierenden Konsequenzen. Narbengewebe setzt dort spezielle Hormone frei, die intakten Nervenzellen in der Umgebung unmissverständlich zu verstehen geben: „Halt, hier geht es nicht weiter.“ Wo offensichtlich keine Verbindung entstehen kann, bleiben gesunde Neuronen inaktiv und das verletzte Gebiet bleibt abgeschnitten.
Kann dieses Narbengewebe allerdings durch anderes Gewebe oder künstliches Material ersetzt werden, entsteht ein wesentlich regenerationsfreundlicheres Umfeld. Als derartige Basis könnte ein Transplantat aus Fibrin (dem „Klebstoff“ der Blutgerinnung) dienen, wie die Pilotstudie eines interdisziplinär besetzten Forscherteams aus Peking nun nahelegt. Das Implantat wurde Hunden mit Rückenmarks-Läsion und Lähmungen in den Hinterbeinen eingesetzt. Mittels bildgebender Verfahren verfolgten die Wissenschaftler die Veränderungen in den Nervenbahnen im Rückgrat, die über die Fibrin-Unterlage neue Verbindungen herstellten. Das Biomaterial wirkte nicht nur als Wegweiser für neue Nervenfasern, sondern reduzierte auch die Vernarbung des betroffenen Bereichs. Hinzu kommen vielversprechende langfristige Verbesserungen in der Motorik.
Sterbende Blutkörperchen
Zwölf Wochen nach der Implantation hatten die Versuchstiere wieder die Kontrolle über den gesamten Bewegungsapparat, konnten stehen, ihr Gewicht verlagern und vorsichtig laufen. Erstaunlich sind die Erfolge insbesondere aufgrund der gut funktionierenden Balance, die ein Zusammenspiel unterschiedlicher Muskelpartien im gesamten Körper erfordert. Einen anderen Weg, um ein geschädigtes Rückenmark vielleicht zu heilen, verfolgen Forscher an der Medizinischem Universität Wien: Im Jahr 2015 wurde erstmals das Wirkstoffgemisch APOSEC auf sein Potenzial in der Rückenmarksregeneration hin getestet. Das Konzentrat besteht aus jenen Stoffen, die von absterbenden („apoptotischen“) weißen Blutkörperchen abgesondert werden. Der Studienleiter Henrik Jan Ankersmit, Leiter des Christian Doppler-Labors für Diagnose und Regeneration von Herz- und Thoraxerkrankungen, konnte bereits auf Erfahrungswerte mit APOSEC zurückgreifen: 2012 war es ihm damit gelungen, die Vernarbung des Herzmuskels nach einem Infarkt weitgehend zu verhindern.
Doch könnte APOSEC auch die problematische Vernarbung im Nervengeflecht des zentralen Nervensystems positiv beeinflussen? Das Forscherteam verabreichte Ratten mit verletztem Rückenmark unmittelbar nach der Schädigung das Mittel – und beobachtete eine noch nicht dagewesene Heilung. Die deutlichste Verbesserung trat bei Tieren ein, denen die Substanz zwischen 40 Minuten und einer Stunde nach der Verletzung in die Bauchhöhle injiziert wurde: Im betroffenen Areal des Rückenmarks kam es zu einer deutlich angeregten Neubildung von Nervengewebe. Als Ursache dieser außergewöhnlichen Regeneration vermuteten die Wissenschaftler die plötzlich gesteigerte Aktivität der Proteine BDNF und CXLC1: Beide haben neuroprotektive (nervenschützende) Eigenschaften, CXLC1 regt darüber hinaus die Zellteilung an. Die Gewinnung der weißen Blutkörperchen sei mit dem Aufwand einer Blutspende vergleichbar, so die Forscher. Zudem könnte es auf Vorrat hergestellt und gefriergetrocknet werden, um im Bedarfsfall sofort griffbereit zu sein.
Die Idee zum therapeutischen Einsatz weißer Blutkörperchen war einerseits von der „Hypothese der sterbenden Stammzellen“ inspiriert, wonach die Effekte mancher Stammzellbehandlung auf die Wirkung absterbender Stammzellen zurückgehen. Diese sondern hormonähnliche Substanzen ab, die sowohl das Immunsystem stärken als auch das Gewebswachstum anfachen können.
Nachhall des Traumas
Wie schwer die Folgen einer Rückenmarksverletzung ausfallen, hängt von der Höhe der Verletzung im Rückgrat und ihrem Ausmaß ab. Die Ausprägungen können dabei individuell sehr unterschiedlich ausfallen. Auch trotz einer Lähmung kann eine gewisse Restbeweglichkeit oder sensorische Wahrnehmung bleiben. Während manche (meist inkomplett) querschnittgelähmte Menschen berichten, ihre Beine bewegen, aber nicht fühlen zu können, existiert auch der umgekehrte Fall.
Zielgerichtete Physiotherapie, die etwa eine vorhandene Restbeweglichkeit erhält und fördert, gehört zum möglicherweise wichtigsten Aufgabengebiet bei Querschnittlähmungen: der Behandlung von Begleiterscheinungen. Während in den vergangenen drei Dekaden die adäquate medizinische Versorgung von Patienten mit Rückenmarksverletzung im Vordergrund stand, fiel der Fokus vor rund 15 Jahren auf die eingehende Erforschung des Traumas im Nervengewebe und dessen Folgewirkungen.
Als Behandlung erster Wahl gilt heute eine kombinierte Therapie, die Stimulation und Regeneration auf molekularer Ebene mit motorischem Training verbindet. Bestätigt wurde dies im November 2015 durch eine australische Vergleichsstudie, die 22 gebräuchliche Formen der Physiotherapie in punkto Wirksamkeit und Langzeiteffekt gegenüberstellte. Die überprüften Methoden schlossen Krafttraining, Mobilitätstraining im Sitzen, Mobilisierung der Gelenke, Stretching sowie passive Bewegung der Gliedmaßen mit ein.
Die sichtlich besten Ergebnisse, so die Wissenschaftler vom Zentrum für Rehabilitationsforschung der University of Sydney, erzielten vier Therapieansätze: Fitness, Training der Hände, Training im Rollstuhl und die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS). Letztere soll als Reizstromtherapie die schmerzleitenden Nervenbahnen dahingehend beeinflussen, dass die Weiterleitung von Schmerzreizen zum Gehirn verhindert oder zumindest verringert wird.
Den Schmerz stillen
Zentral ist die Behandlung für knapp 50 Prozent der Menschen mit Querschnittlähmung, die nach der Verletzung des Rückenmarks an chronischen Nervenschmerzen leiden. Bislang verfügbare Medikamente haben oft keinerlei Wirkung, weshalb stetig neue Substanzen auf ihr Potenzial zur Schmerzreduktion ausgetestet werden. In einer Analyse norwegischer Neurologen rangierte auf der Liste der untersuchten Substanzen einmal mehr Capsaicin, das unter anderem Chilis ihre Schärfe verleiht. Durch seine Wirkung auf spezielle Rezeptoren setzt es neben Hitze- und Schärfe-Reizen auch Botenstoffe im Nervengewebe frei, die chronische Schmerzen bei Testpersonen innerhalb einer Woche milderten.
Erschienen im Universum Magazin, Februar 2017
