Projekt Beschreibung

Erinnerungen gezielt aus dem Gedächtnis zu löschen, ist nach wie vor eine kühne Vision. Schmerzhafte Erinnerungen zu verändern, gelingt der Forschung allerdings bereits mit Antibiotika sowie Proteinen. Ziel der Experimente ist es, das Leid schwer traumatisierter Menschen zu lindern.
Es gibt noch immer Momente, in denen die Fehlzündung eines Autos oder eine vom Wind zugeschlagene Tür Alicia Sheets in Panik zusammenzucken lassen. „Laute Geräusche fahren mir wie ein Elektroschock durch Mark und Bein, denn in Bagdad bedeuten laute Geräusche meistens Tod“, erzählt die 35-jährige US-Amerikanerin. Ein Jahr lang war die Navy-Soldatin im Irak stationiert, erlebte in Bagdad täglich Bombenangriffe und Gefechte. Nach der Rückkehr fühlte sich Alicia im Alltag meist wie betäubt, zu ihrer Schreckhaftigkeit gesellten sich Albträume vom Krieg und schwere Depressionen. Sie suchte bei Psychiatern und Therapeuten Hilfe, die ihrem quälenden Zustand schließlich einen Namen gaben: Posttraumatisches Stresssyndrom (PTSD).
Tief im Hirn eingebrannt
Während in den USA viele Psychotraumata auf Kriegseinsätze zurückzuführen sind, gelten hierzulande schwere Unfälle als eine der Hauptursachen. Hinzu kommen Flucht, Folter, Vergewaltigung, Missbrauch oder (sexuelle) Gewalt als häufige Auslöser eines Traumas sowie der Folgestörungen, zu denen auch PTSD zählt. Eines der belastendsten Symptome sind Albträume und Flashbacks, die immer wieder unkontrolliert in den Alltag drängen. Betroffene haben plötzlich Bildfetzen des Erlebten vor Augen, nehmen Geräusche oder Gerüche der vergangenen Situation lebhaft wahr. Derartige Episoden – „Intrusionen“ genannt – sind keine Erinnerungen, sondern das erneute Durchleben der traumatischen Situation.
Die Ursache dieser unkontrollierbaren Störungen liegt in einer Überforderung der Betroffenen, die von traumatisierenden Ereignissen ausgeht: Sie erleben eine Situation, der sie nicht gewachsen sind und in der alle üblichen Bewältigungsmechanismen versagen. Wenn die Reflexe Kampf oder Flucht im Angesicht der Todesangst nicht ausführbar sind, geht der Körper in den „freeze“-Modus – also in ein geistiges Wegtreten, das von Endorphinen befördert wird. Die Erfahrung selbst wird nur noch fragmentiert wahrgenommen und gespeichert und kann weder zusammenhängend wahrgenommen noch vollständig erinnert werden. Widersprüche in den Erzählungen von Gewaltopfern, Kriegsflüchtlingen oder den Überlebenden von Anschlägen sind Psychologen zufolge auf diesen Verarbeitungsmechanismus lebensbedrohender Ereignisse zurück zuführen. Hinzu kommt, dass es Betroffenen oft immens schwer fällt, über das Erlebte (sofern dieses nicht kompletter Amnesie unterliegt) zu sprechen.
Krieg als Ursache und Anstoß
Gegenwärtig und historisch ist PTSD stark mit bewaffneten Konflikten und Kriegen assoziiert. Erste ausführliche Berichte über die Erkrankung stammen aus dem Ersten Weltkrieg, als massenhaft schwer traumatisierte Soldaten von der Front heimkehrten.
Es dauerte allerdings bis zum Ende des Vietnamkrieges 1975, bis in die Traumaforschung investiert wurde. Der Anstoß kam von Kriegsveteranen, die öffentlich über erlebte Gräuel und damit verbundene psychische Schäden sprachen und gegen die Stigmatisierung der Opfer kämpften. 1980 wurde das psychische Trauma als eigenständige Diagnose anerkannt.
Vom Protein zur Erinnerung
Seither haben neue Erkenntnisse der Neurologie bestehende Behandlungen verfeinert und die Türen zu neuen Wegen geöffnet. In den vergangenen Dekaden erkannte man immer genauer, wie Langzeiterinnerungen geformt und gespeichert werden.
Vereinfacht gesagt entsteht eine neue Erinnerung, indem Proteine Gehirnzellen zum Wachstum und zur Bildung neuer neuronaler Verknüpfungen anregen. Erinnerungen werden damit nicht an einem spezifischen Ort gesichert, sondern in einem Netzwerk von Verbindungen im Gehirn abgelegt. Dennoch: Erinnerungen sind nicht sonderlich stabil und lassen sich bis zu einem gewissen Grad ganz ohne Medikamente verändern. Eigentlich geschieht das jedes Mal, wenn wir uns an ein Erlebnis erinnern. In dieser Phase der „Rekonsolidierung“ sind Erinnerungen wieder formbar, bevor sie erneut abgelegt werden.
Dieser Umstand wird in der traumafokussierten Therapie genutzt, indem etwa an der Art und Weise gearbeitet wird, wie über schlimme Erlebnisse gedacht wird. Ziel ist nicht, eine Erinnerung tatsächlich zu verändern, sondern den Fokus neu und nicht nur auf den Schmerz zu setzen. Bei einer erfolgreichen Behandlung gelingt es, positive Reize mit den an sich traumatisierenden Erinnerungen zu verknüpfen und damit den Schrecken der Erinnerung zu bannen. Die Aufarbeitung eines Traumas dauert jedoch lang und ist selbst für versierte Experten ein Balanceakt, da ein verfrüht oder zu direkt angesprochenes Trauma erneut aufbrechen und sich dadurch verschlimmern kann.
Übereifrige Neuronen eliminieren
Als interessante Alternative erscheint da die Möglichkeit, Erinnerungen punktgenau aus dem Gedächtnis zu löschen. Vollständig ist das bislang jedoch nur in Tierversuchen gelungen, bei denen spezielle Neuronen gezielt zerstört wurden. Einem Team aus französischen und US-amerikanischen Neurologen war aufgefallen, dass Neuronen, die beim Erinnern von Ängsten besonders aktiv sind, hohe Konzentrationen des Proteins CREB aufweisen. Sie trainierten daraufhin Mäuse mittels Elektroschocks, sich vor einem bestimmten Ton zu fürchten, und identifizierten dann jene Neuronen, die hohe CREB-Werte zeigten. Durch eine kontrollierte Diphtherie-Infektion zerstörten sie die Nervenzellen – mit dem Ergebnis, dass die Angst der Tiere wie ausradiert schien und sich weder im Verhalten noch auf CT-Bildern (in denen die Aktivierung der entsprechenden Hirnareale sichtbar ist) zeigte. In der Fachwelt stieß diese Herangehensweise vielfach auf Skepsis – die Wissenschaft sei noch zu weit davon entfernt, das Gehirn vollständig zu verstehen, so die Mahnung.
Um belastende Ereignisse zu verarbeiten, spielen im Gehirn grundsätzlich zwei Areale zusammen, die sich in ihrer Funktion ergänzen. Die Mandelkerne (Amygdala) spielen dabei die Rolle der Feuerwehr, die stressreiche Erfahrungen, Sinneseindrücke und Emotionen verarbeiten, während im Hippokampus – dem Archiv des Gedächtnisses – die „entschärften“ Eindrücke abgelegt werden.
Medikament manipuliert Erinnerung
Inzwischen konzentriert sich der Gutteil der Forschungen darauf, die schmerzhaften Teile einer Erinnerung abzuschwächen und somit das seelische Leid zu mildern. Im Mittelpunkt steht dabei meist die Amygdala. Als wirksam hat sich dabei das Medikament Propranolol erwiesen, das den Botenstoff Norepinephrin blockiert, traumatische Erinnerungen abschwächt und verhindert, dass diese mit Gefühlen von Angst, Furcht oder Trauer verknüpft werden. Niederländische Forscher kurierten Versuchsteilnehmer damit erfolgreich von ihrer Spinnenphobie, während in den USA der Stresslevel von Traumaopfern gesenkt werden konnte.
In Experimenten mit Ratten wurde auch das Antibiotikum Anisomycin getestet, das die Proteinsynthese in den Mandelkernen so beeinflusst, dass Erinnerungen zwar bestehen bleiben, aber von jeder Angstreaktion gelöst sind.
Ein anderer Weg, um Vergangenem selektiv den Schrecken zu nehmen, führt über den körpereigenen Hemmstoff U0126. Dieser sogenannte MAP-Kinase-Inhibitor unterdrückt die Synthese von Proteinen, die für das Abrufen einer Erinnerung zuständig sind. Ratten denen U0126 injiziert wurde, zeigten eine verringerte synaptische Aktivität in bestimmten Bereichen der Amygdala. Durch die Injektion von U0126 konnten die Forscher bei Versuchstieren die zuvor antrainierte Angst vor einem speziellen Geräusch auslöschen. Im Gegenzug gelang es mit dem Medikament auch, Furcht vor einem anderen Audio-Signal zu implantieren.
Schneller vergessen
Während sich die bisher angeführten Forschungen auf das Erinnern konzentrieren, versuchen wiederum andere, das Vergessen zu fördern. Im Mittelpunkt stehen dabei NMDA-Rezeptoren in der Amygdala, die eine tragende Rolle beim Erinnern und Vergessen spielen. Im Normalfall drosseln körpereigene Stoffe die Aktivierung dieser Rezeptoren und verhindern damit, dass Gedächtnisinhalte vergessen werden. Eine Überaktivierung der NMDA-Rezeptoren könnte im Umkehrschluss den Vorgang des Vergessens befeuern, vermuteten Wissenschafter der Emory University in Atlanta. In ersten Experimenten mit Ratten verwendeten sie dafür ein Medikament namens D-Cycloserin, das die gewünschten Rezeptoren stark aktiviert und bei den Tieren tatsächlich das Vergessen beschleunigte.
Riskanter Löschvorgang
Je konkreter die wissenschaftlichen und medizinischen Möglichkeiten zum Eingriff in die Erinnerung werden, desto lauter werden Zweifel daran geäußert. Von Nebenwirkungen abgesehen, sind es unvorhergesehene Langzeitfolgen, vor denen manche Wissenschaftler warnen. Denn was, wenn eine Erinnerung gelöscht wird und trotzdem ein Unbehagen zurückbleibt, das sich Betroffene dann nicht erklären können? Aus der klinischen Praxis sind zudem etliche Fälle bekannt, in denen Menschen infolge von Kopfverletzungen oder Drogenmissbrauch spezifische Episoden eines Ereignisses vergessen haben, was bei den Betroffenen extremen Stress verursachte.
Diese „Lücken“ könnten die Psyche stark zerrütten und wesentlich schlimmer wiegen, als ein Leben mit der ursprünglichen Erinnerung zu führen, der man immerhin mit einer Therapie begegnen könne, argumentieren Psychiater der Oxford University.
Und was halten PTSD-Patienten von der Möglichkeit, ihre Erinnerungen zu verändern? „Das würde ich nicht wollen, denn was immer wir im Leben durchmachen, macht aus, wer wir sind“, sagt Alicia Sheets. Ihre Erinnerung erlaube ihr zumindest, anderen Betroffenen zu versichern, dass es wieder bergauf geht: „Auch wenn es zu Beginn nicht so scheint, aber da ist ein Licht am Ende des Tunnels.“
Erschienen im Universum Magazin, Februar 2019
